Der Tag war vergangen, wie die Tage eben so vergehen. Ich hatte ihn mit meiner primitiven und schüchternen Art von Lebenskunst herumgebracht. Smilla brachte mich einige Tage zuvor zu Tom nach Köpenick, was sie mit einer großen berraschung für mich begründete. berraschungen überfordern mich bisweilen, was wohl daran liegt, dass Mensch und Katze grundsätzlich verschiedene Vorstellungen haben. Den Tag jedenfalls, an dem mir das große Glück beschert werden sollte, verbrachte ich teils sinnierend unter dem Divan und teils im Blumenkasten des Balkons mit dem Beobachten verschiedener Formationen federleichter Wattewolken. Ab und zu flog eine Krähe durch die himmlische Kulisse und verkündete hämisch krächzend das Unheil, welches nur wenige Stunden später für mich Gestalt annahm.
Nachdem Tom mich auf den Innenhof seines Hauses gebracht hatte, gesellte er sich für einen Moment zu mir in das feuchte Grün und nannte mich kumpelhaft „Keule“, während er über das traurige Dasein melancholischer Stubenkatzen salbaderte. Smilla trug derweil noch emsig einige Dinge für ein Picknick zusammen. Als sie in Erscheinung trat, hatte ich mich längst in die efeuberankten Beete entlang der Häuser versteckt. Warum? Nun, ich möchte ein Gleichnis aufzeigen.
Ein Mensch, der leise das harmonische Streichen der Violine vernimmt, ohne sie zu kennen, ist berührt und ersehnt, Teil vom Unvorstellbaren zu sein. So sehr er sich jedoch bemüht – mehr als diese Melodie scheint es für ihn nicht zu geben. Doch plötzlich und ganz unerwartet findet er sich in einem Symphonieorchester wieder. Die Bögen der Violinen stechen ihn, Pauken erschrecken ihn fast zu Tode und in welche Richtung er sich auch bewegt; einen Weg in die Stille kann er nicht finden. Man ruft nach ihm und möchte ihn leiten, doch die Instrumente machen ihn taub für alle anderen Geräusche. Dann rennt er los. Solange, bis er nicht mehr kann und atemlos feststellt, nun Teil des Ganzen zu sein.
Diese Erkenntnis gewann ich an Tag fünf meiner Reise, als ich einige Blöcke weiter auf einer Baustelle Unterschlupf fand. Dort lag etwas Futter, das ich rasch verschlang, wobei meine Augen die Gegend nach möglichen Konkurrenten absuchten, da meine Erscheinung allein niemanden in die Knie zwingt. Ich bin klein, zierlich und zudem auch noch schwarz, was bekanntlich schlank macht. Auch wenn es als Stubenkater egal ist, wie man aussieht; in der freien Wildbahn ist es von Vorteil, eine Kampfkatze zu sein. Mit dem weißen Fleck am Hals sehe ich jedoch aus wie ein Pfarrer. Doch da Katzen nicht an Götter glauben, gibt es auch keinen Respekt vor dem Amt des Gott Vertretenden. Was mich wiederum zum gewöhnlichen Hauskater degradiert.
Rum wie num: Anscheinend wurde nach mir gesucht. Denn ein Mann kletterte in das abgesperrte Gebiet und erzählte mir, er habe meinen Steckbrief gelesen. Der Fremde versuchte vergeblich, jemanden aus meiner Familie zu erreichen und traurig nahm ich die verstrichene Gelegenheit zur Kenntnis. Mit hängendem Kopf lief ich entlang des Wassers, als mich eine Frau, die sich mir als Djamila vorstellte, einlud, auf der Terrasse ihres Strandrestaurants „Krokodil“ zu speisen. So gewann ich neue Kraft und Hoffnung, mein Abenteuer fortzusetzen. Langsam verstand ich, was Freiheit bedeutet, wuchs an meinen Aufgaben und wurde zum Dirigenten meines Orchesters.
Dann lernte ich Freitag kennen. Einen einäugigen Kater, der im Kiez jede Kätzin kannte und mich vor dem Hungertod bewahrte. Wir versteckten uns gemeinsam in einem alten Haus neben dem Straßenbahnhof. Gerade als Freitag mit seiner neuen Flamme unterwegs war, geriet ich, bei dem Versuch auf dem Dach des Hauses einen Vogel zu fangen, mit meinem Hinterbein in einen Stacheldrahtzaun. So sehr ich mich auch drehte; ich kam aus den Schlingen nicht heraus. Verwickelte mich stattdessen nur noch mehr und war bald regungsunfähig. Ich weinte, fluchte und sinnierte tagelang über mein Schicksal. Plötzlich stand ein Mann vor mir und befreite mich zügig. Er nahm mich an sich und erzählte mir, dass er Florian Radke heiße und von nun an alles gut werde. Fest an sich gedrückt, brachte er mich zu seiner Familie. Am Halsband, das mir immer peinlich war, hatte Tom zuvor seine Telefonnummer befestigt. Die Radkes informierten sofort meine Familie und kurze Zeit später standen alle versammelt in Florians Flur. Tom redete, Smilla weinte und Frau Radke kämpfte tapfer mit den Tränen. Selig kletterte ich auf Smillas Arm und ließ mich erschöpft nach Hause tragen. Eine sechswöchige Oddyssee nahm ihr Ende, die mich lehrte, dass das Leben des Dirigenten zwar aufregend, für mich jedoch nicht geeignet ist.
Wenn ich an meine Reise denke, vermisse ich Freitag und möchte mich bei allen bedanken, die mitfühlend sich meiner annahmen. Bei Lisa und Jacqueline, Djamila, dem Mann auf der Baustelle, om, der unermüdlich Steckbriefe klebte, bei Familie Radke und ganz besonders bei Florian; einem großartigen jungen Mann, der mit dem Herzen am richtigen Fleck mein Leben rettete.