Umsteigen

bahnhof_ostkreuz2 Wenn Köpenicker „in die Stadt“ fahren, dann fu?hrt kein Weg dran vorbei. Auch wenn sie wieder nach Hause wollen, stand und steht er schon immer da, wie der mahnende Finger an der Stecke: „Achtung umsteigen“. Der alte Wasserturm am Ostkreuz. Alte Gleise, Bru?ckenkonstruktionen u?ber hundert Jahre alt, Stahlträger mit Nieten, u?berall dekorativer Rost, versteckte und verdreckte Ecken und Winkel, von den Berlinern schon lange „Rostkreuz“ genannt. Zu?ge aus fu?nf Richtungen spucken die gehetzte Arbeiterklasse zu den bekannten Stoßzeiten aus. Jeder einzelne hinterlässt eine kleine Spur in den ausgetretenen Treppenstufen, auf den engen verbauten Bahnsteigen. Eine Kippe, ein altes Taschentuch, ein leichter Stoß in die Rippen seines Nebenmannes beim Run von Bahnsteig zu Bahnsteig. Treffpunkt, Sammelpunkt, Schmelztiegel der Ostberliner Mentalitäten. Sie kommen aus den „chicen“ Hochhäusern in Marzahn, den ollen Mietskasernen entlang der Strecke Schönhauser und Prenzlauer oder aus den Altneubauten Richtung Schöneweide. Mittendrin auch die Randberliner aus Köpenick oder Strausberg – hier standen sie alle in der Sonne, im Regen oder an diesen windigen Tagen schutzsuchend hinter den Backsteinhäuschen. Immer unter der Schirmherrschaft des Wasserturms, der fast malerisch und geheimnisvoll von den Gleisen der Westkurve gestreift wurde. Was die Wartenden fast 40 Jahre einte, war die Tristesse und der marode Charme eines Umsteigebahnhofs mit dem Potential babylonischer Verwirrung und der real existierenden Gewissheit, dass die Fahrt auf den alten Gleisen endlich war. Kurz nach Treptow links in die Kurve, den Blick auf die weißen Hochhäuser im Westen, da war „dru?ben“. Andere Richtung ging es direkt an der Grenze entlang unter der Bornholmer Bru?cke durch, auch hier war Schluss. Erst recht das abrupte Ende am Bahnhof Friedrichstraße. Umsteigen ohne wirklich aussteigen zu können. Hin- und her fahren auf eingefahrenen Gleisen durch marodes Bru?ckengewirr. Aufbruchstimmung kam am alten Ostkreuz nie auf. Erst jetzt, 20 Jahre nach dem die Anzeigetafeln endlich den Weg zu neuen Zielen weisen und die angezeigten Endstationen Richtung Osten nach Heimat und nicht nach Ende der Welt klingen, zeigt auch Ostkreuz: Nichts ist ewig - beständig ist nur die Veränderung. Fragmente alter Bru?cken, die fru?her unter dem Druck der vollen S-Bahnen stöhnten, sind jetzt historische Bausubstanz inmitten hoch betonierter Hightech- Bahnsteige. Ostkreuz ist jetzt eher funktionell als schön. Aber es hat Platz fu?r die Vision von der ganz persönlichen Reise - in alle Richtungen offen. Nur der alte Wasserturm erinnert. Woran eigentlich?

Jacob Zellmer, Fraktionsvorsitzender der Treptow-Köpenicker Grünen Stadtentwicklung

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