(F)Rohe Weihnachten

Ich geh nicht hin
Millionen Lichter blinken in den Fenstern und auf den Balkonen. Überall und von jedem wird dir eingeredet, dass wäre christlich und human, sich zu dieser Gelegenheit so dermaßen viel Zeug gegenseitig anzudrehen, dass einem schwindelig wird. Wollten wir nicht längst alle Produktion und Komfort ein bisschen herunter fahren? Hatten wir nicht schon vor zwei Jahren den Augenblick erreicht, an dem es auf der Erde genauso viel anorganisches Material gab wie organisches, also den Zenit überschritten? Mir macht das Angst.
Jetzt ist das zufällig exakt das dreißigste Jahr meines Erwachsenelebens, dass ich versuche, da nicht daran teilzunehmen. Klappt aber nicht.
Aufblasbare Antiweihnachtsdekoration
Foto: Oksana Drobotun

Zuallererst hatte ich Mitte Zwanzig noch den unaufgeregten, jugendlichen Rebellen gegeben. Baum brauche ich nicht, braucht kein Mensch. Also nur bisschen Grünzeug in die Vase und drei bis fünf Kügelchen dran, am liebsten aus Holz und gleich in Äpfelchenform. Weiß das eigentlich noch jemand, dass das der Grund ist, warum wir da Kugeln anhängen zum Schmuck? Das waren früher Äpfel oder sollten welche sein. Der Winter bricht an und wir werden lange noch das Ersparte essen müssen. Ursprünglich. Hat mit Jesus' Geburt gar nichts zu tun.

Als ich später kleine Kinder hatte, musste und wollte ich wohl oder übel auch ein bisschen Kitsch auffahren. Sie sahen es ja überall um sich herum. In der Kita, bei den Freunden, in den Schaufenstern, auf der Straße an allen Laternen... Immerhin war das Bäumchen nur einen halben Meter hoch. Um das zu kaschieren, hatte ich es auf einen Tisch gestellt. Und auch, um die wenigen Naschanhängerchen, die Anfang Januar beim Abschmücken des Baumes immer ein Fest nach dem Fest waren, in vorübergehend unerreichbare Höhen für die kleinen Kinderhände zu bugsieren.

Ich weiß noch, wie ich selbst dreikäsehoch bei der Mutter in die Stube schlich und mir solch ein Päckchen Vollmilchschokolade in buntem Staniolpapier stibizte. Die Großtante schickte uns die jedes Jahr aus dem Westen. Das war also richtige Schokolade! Nicht dieser Zuckersemmelmehlmischkram mit ganz, ganz wenig Kakao darin, der uns in genau zwei Sorten damals verkauft wurde.

Nun, meine Kinder beschlossen irgendwann, der Papa macht das Weihnachten eh viel schöner als die Mama! Da fahren wir doch lieber zu ihm und seiner neuen Familie. Dort werden Plätzchen gebacken und Geschenke gemacht, gekocht und gegessen und viel rumgesessen mit der Familie, dass man auf jeden Fall etwas Alkoholisches trinken muss, um das mehrere Tage lang durchzuhalten. Ich vertrage keinen Alkohol. Und ich kann auch nicht lange sitzen. War auch sonst nicht böse. Hat die Mama eben frei und kann sich irgendwohin verdrücken, wo Weihnachten gar nicht ansteht.

Im ersten Jahr war es Istanbul. Und denkstepopenkste! Wie das dort alles bunt leuchtet und blinkt und glitzert, mit riesigen Schleifen behangen und glänzenden Kugeln in allen Farben und Größen. Und Deko-Geschenkeberge und Weihnachtsschmuck und Tannenbäume überall. Ich dachte, ich spinne! Mir wird heute noch schlecht, wenn ich daran denke. An Heiligabend gab es es für mich unter freiem Himmel in einem klitzekleinen Restaurant im Hafen Elma-Chai und einen leckeren Fischdöner. Herrlich! Draußen sitzen zu Weihnachten am Wasser, das ist doch sowieso das Beste.

Dieses Jahr in meiner neuen Wohnung und mit neuen Nachbarn muss ich mich nicht mehr verstellen. Ich hänge die Lichterketten auf der Dachterrasse schon im September auf. Wenn die Nächte eher anfangen, möchte ich es draußen trotzdem noch lange gemütlich haben. Der Herrnhuter Stern und die Pyramide bleiben im Keller. Ich wüsste jetzt eh nicht, in welchem der noch verbliebenen, nicht ausgepackten Umzugskartons die Sachen stecken. Wenn mich jemand fragt, warum ich keine Deko habe, werde ich antworten, ich denke, ich glaube wohl buddhistisch. Dann verstehen sie auch die große tibetische Gebetsfahne, die mir eigentlich eher ein kleiner Schattenspender und Farbklecks war im Spätsommer auf dem kahlen Betondach.

Kurz vor knapp macht mir die Familie einen Strich durch die Rechnung. Die kleine Schwester fährt über die Feiertage zu den Schwiegereltern. Wollen wir uns dann nicht doch noch alle irgendwie vorher an einem Adventssonntag treffen? Argh. Wir doodlen inzwischen, damit wir alle Eltern, Kinder, Geschwister und Enkel terminlich unter einen Hut bekommen. Und es gab Geschenke, obwohl "wir schenken uns ja nichts!" Und Essen bis zum Umfallen und Gezank und Geschrei und auch ein bisschen Musik. Ich war leider krank, ja echt. Ich hatte mir vom üblichen, kleinen Novemberausflug ans Mittelmeer Corona mitgebracht. Und meine inzwischen großen Kinder bekamen dann die Eine 'ne schwere Blasenentzündung und der Andere einen Hangover von der Nachtschicht. Alles nicht gelogen, aber durchaus nicht ungelegen. Jetzt bin ich fein raus. Das letzte minderjährige Kind in der Familie ist bei seinem Vater, sodass auch Heiligabend wirklich nichts stattfinden muss. Gar nichts. Wunderbar!

Zu meinem eigenen Vater gehe ich nicht. Der hat sich in letzter Zeit so blöd benommen, dass ich es nicht fertig bringe, ihm unter die Augen zu treten. Mit so Jemandem möchte ich nicht feiern. Oder nur zusammen kochen und essen. Ich will ihn einfach gar nicht sehen. Weihnachten hin oder her!

Letztens, an einem dieser gerade so brutal kurzen und dunklen Tage, wird mir mein Herz weich. Ich schreibe dem Vater, dass ich doch komme. Die große Schwester ohne Kind meint, wir könnten ja am Vierundzwanzigsten wenigstens schick was essen gehen und reserviert gleich für mich mit. Kann ich mir ja bis zum Morgen des Tages noch überlegen, ob ich das möchte oder nicht. Ich weiß es bereits. Ach, lasst mich doch endlich in Ruhe mit diesem blöden Fest!

Dafür gehe ich wieder ins Hamam, wie ich es schon so oft in der Zeit "zwischen den Jahren" gemacht habe. Komplett-Reinigungsritual und dann frisch ins Neue Jahr gestartet. Leib und Seele geschrubbt und gewaschen. Und dann habe ich ja auch wieder Ruhe vor der Feierei – bis Ostern.


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