Wo die Neurosen blühen

Ohne Wahnsinn geht nichts im Leben. Das Leben an sich ist der Wahnsinn. Das fängt schon damit an, dass der Mensch als Mensch auf die Welt kommt – und nicht etwa als Fruchtfliege mit einer sehr überschaubaren Lebenserwartung. Wie dann innerhalb von wenigen Jahren aus einem sabbernden heulenden Bündel ein zuckersüß lächelndes und wohlfeil formulierendes Menschenkind wird („Mama, was du da sagst, interessiert mich doch gar nicht!“ ), ist der Hammer. Wahnsinn, so habe ich mir neulich erklären lassen, sei es, wenn man immer wieder dasselbe tut und entgegen aller Erfahrung dennoch ein anderes Ergebnis erwartet. ... Wenn man darüber näher nachdenkt, erscheinen einem Kindererziehung, Beziehungen aller Art und Weltpolitik plötzlich in einem ganz anderen Licht... Es kann sehr hilfreich sein, seine Mitbürger durch die Therapeuten- Brille zu betrachten. All die Kindheitstraumata, unerfüllten Bedürfnisse und unterdrückten Ängste brechen sich alltäglich auf unterschiedlichste Weise Bahn. Kinder bekommen einen Tobsuchtsanfall, wenn sie ihren Willen nicht sofort bekommen. Das nervt, ist aber nicht gesundheitsgefährdend. Anders sieht es bei den Erwachsenen aus. Da gibt es nicht wenige, die sich Drogen aller Art reinpfeifen, um im Job oder in der Familie klar zukommen. Das ist Wahnsinn, und zwar mit Umsatzgarantie für Destillerien, Dealer oder Spieleentwickler. Ohne die psychisch Versehrten wiederum wäre unsere Kultur um einige wunderbare Kunstwerke ärmer, denn manche Psychos entwickeln eine unglaubliche Kreativität. Doch leider wird nicht aus jedem ein van Gogh (aua Ohr ab!), ein Kurt Cobain oder eine Virginia Woolf. Ich zum Beispiel hatte mir vorgenommen einen pulitzerpreisverdächtigen Text abzuliefern. Nachdem mich allerdings der bekiffte Nachbar aus dem Hinterhaus heute Nacht aus dem Bett geklingelt hat, um mir Gras zu verkaufen, die Bauarbeiter am frühen Morgen mit den Stemmarbeiten in der Wohnung unter uns anfingen und der Versicherungsmann am Telefon mit Blick auf meine halbherzigen Altersvorsorgebemühungen meinte, dass ich bei guter Gesundheit ja durch aus bis ins 98. Lebensjahr arbeiten könnte, fehlte mir schlicht die nötige Konzentration. Vor dem Alter muss ich mich glücklicherweise nicht fürchten. Mein vierjähriges Kind sagte neulich Morgens fröhlich zu mir: „Mama, wenn du mal alt wirst, dann pflege ich Papa und dich.“ Wahnsinn!

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