Fliegen ist notwendig – Leben nicht!

Es war einmal und ist noch gar nicht lange her, da hatte die Welt noch ihre Ordnung, war übersichtlich und bescheiden gestaltet: in Schwarz und Weiß, in Mann und Frau, in Oben und Unten.
Jedes hatte seinen Platz und fügte sich so gut es gehen wollte in den Lauf der Dinge. Und siehe, es war gut. Doch eines Tages öffnete sich der Himmel und tollkühne Frauen kamen in ihren Kisten geflogen. Da staunten die Männer nicht schlecht und die Welt wusste: Es war ein neuer Tag geworden.
Ad Eins: Dass Frauen an den Herd gehörten und nicht an den Himmel, war nicht nur bis vor hundert Jahren allgemein Konsens. So fragte das bundesdeutsche Eheweib den bundesdeutschen Gatten gefälligst um Erlaubnis laut BGB, wenn es einer beruflichen Tätigkeit nachgehen wollte – bis 1977! Noch zwei Jahrzehnte zuvor konnte der bundesdeutsche Ehemann seiner Gattin Lohnverhältnis fristlos kündigen, wenn ihm das Freude bereitete. Und im freien Staate Bayern mussten Lehrerinnen noch in den 1950er Jahren im Sinne des Lehrerinnenzölibats ihren Beruf aufgeben, wenn sie heirateten. Da nimmt es kaum Wunder, dass der Bundesgerichtshof 1967 von einer Frau verlangte, den ehelichen Beischlaf nicht teilnahmslos oder widerwillig, sondern in Zuneigung und Opferbereitschaft zu vollziehen.

So war das damals – und das ist noch gar nicht lange her!

Und wo nicht die Poesie der Herzen, wohl aber die Prosa der Verhältnisse das Leben bestimmt, mutet es verwegen an, denkt man sich Frauen, die zum Vorbild der Welt einen jahrtausendelangen Traum erfüllen. Und genau das geschah, als die damals 23-jährige Französin Raymonde de Laroche am 8. März 1910 als erste Frau der Welt die Pilotenprüfung ablegte. Hélène Dutrieu, Tochter eines belgischen Offiziers, flog am 19. April 1910 als erste Erdenbürgerin einen Passagier, stellte im gleichen Jahr den Weltrekord im Langstreckenflug mit Bordgast über 45 Kilometer in 40 Minuten auf und war im Folgejahr die erste Frau, die mit ihrer Maschine über eine Stunde ununterbrochen flog. Nur wenige Tage jünger als die erste Pilotin der Welt war Amelie Hedwig Boutard-Beese, genannt Melli. Sie war die erste, die einen deutschen Pilotenschein erwarb. Bevor sie dies tat, wuchs die Architektentochter in wohlhabender Umgebung in Laubegast bei Dresden auf, studierte Bildhauerei an der Königlichen Akademie Stockholm, lernte das Hochseesegeln und begeisterte sich aus purer Freude gerade für die Fliegerei.

Das Flugwesen entwickelt sich – in Berlin Johannisthal

Am Technikum Dresden hörte die junge Dame Vorlesungen in Mathematik, Mechanik, Schiffbau und Flugmechanik und entschloss sich im Jahr 1910, Pilotin zu werden. Dafür ging sie dorthin, wo mal damals hinging, um in Deutschland Pilot zu werden: nach Johannisthal. Dort suchte Melli Beese zuerst vergeblich einen Fluglehrer. Nach mehreren abschlägigen Bescheiden fand sie in Robert Thelen, einem der bedeutendsten Pioniere des Motorflugs, ihren Fluglehrer. Der half ihr nicht nur die Schwerkraft überwinden, auch die schweren Kräfte männlicher Vorurteile unter den Kollegen Flugschülern half ihr Thelen anfangs meistern. Wenig helfen konnte er ihr, als sie im Dezember 1910 mit ihrem Flieger abstürzte, sich viele Knochen brach und von der Behandlung eine lebenslange Morphiumsucht zurückbehielt. Die hinderte Melli Beese nicht, die Pilotenprüfung abzulegen – auch ohne ihren Lehrer Thelen, der sich nun weigerte, sie nach ihrem Unfall weiter zu betreuen, da er sein Vertrauen in die Kunst weiblicher Flugeleven verloren hatte. Am 13. September 1911 aber, an ihrem 25. Geburtstag, stieg Melli in den frühen Morgenstunden mit einer „Rumpler-Taube“, so hieß das Fluggerät, in den Köpenicker Himmel, landete später glücklich und erhielt dafür als erste Frau Deutschlands die Flugzeugführerlizenz. Ad Zwei: Über dem Land der Freien und der Heimat der Tapferen wehte das Sternenbanner und verhieß Gutes – vor allem dem, der als Weißer Mann dort lebte. War man Frau und auch noch schwarz von Haut, so sah das schon ein bisschen anders aus. Als Bessie Coleman 1892 in Atlanta, Texas, geboren wurde, sang an ihrer Wiege wohl niemand vernehmlich ein hoffnungsfrohes Lied auf die erste afroamerikanische Pilotin der Geschichte. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren am 4. Juli 1776 mit dem Anspruch auf die Bühne der Weltgeschichte getreten, die Gleichheit aller Menschen und ihre Freiheit zu unveräußerlichen Werten zu erheben. In ihrer Verfassung von 1788 sah das so aus, dass der Wert eines „Schwarzen“ bei drei Fünfteln eines „Weißen“ lag und Sklaverei eine legitime Wirtschaftsform war. Das Oberste Gericht der USA entschied 1857, dass
„Schwarze keine Rechte haben, die von Weißen respektiert werden müssen“.
Erst nach dem großen Bürgerkrieg, der mehr als einer Million Menschen den Tod brachte, wurde 1865 die Sklaverei abgeschafft, Schwarze 1868 zu vollen Bürgern der USA, die zwei Jahre später das Wahlrecht erhielten. Partnerschaften zwischen Weißen und Schwarzen waren vielerorts dennoch verboten, Kinder lernten in getrennten Schulen, Parkbänke und Pissoirs wurden bis 1964 getrennt genutzt. Das Wahlrecht, das für Afroamerikaner im Allgemeinen galt, also für den Schwarzen Mann, betraf bis 1920 Frauen nicht.

Ein weibliches Wunder von überm Großen Teich

So nimmt sich die Geschichte der Bessie Colemann wie ein Wunder aus: Die Eltern 8 waren kleine Farmer, sie eine gute Schülerin. Das Geld für ein Studium reichte genau für ein Semester. Danach jobbte sie im großen Chicago im Supermarkt und im Frisiersalon. In letzterem – so will es die Legende – hörte sie von den verwegenen Künsten des Fliegens. Und auch sie wollte hoch hinaus. Dabei halfen ihr forsches Wesen und ihre weibliche Schönheit. Gönner ermöglichten Bessie den großen Sprung. Zuerst über den großen Teich – nach Frankreich, wo sie 1920 innerhalb eines Jahres das Fliegen erlernte und 1922 als erste Frau der Welt den internationalen Pilotenschein der Federation Aronautique Internationale erhielt. Als Bessie in die USA zurückkehrte, wurde sie zum umjubelten Star, ihr junges Leben sollte gar verfilmt werden. In Summa: Auf einer Reise durch Europa hatte Bessie Coleman auch in Johannisthal vorbeigeschaut und dort einige Flugstunden bei Robert Thelen genommen. Bessies Wusch war es, eine Flugschule für Afroamerikaner in ihrer Heimat zu errichten. Wie man als Frau in der Männerdomäne der Fliegerei eine Flugschule betreibt, hatte Melli Beese ihr vorgemacht, als diese bereits 1912 die „Flugschule Melli Beese GmbH“ gegründet hatte. Doch ein missglücktes Flugmanöver ihres Mechanikers beendete 1926 das Leben der Bessie Colemann, bevor sie ihren Traum verwirklichen konnte. Tragisch schied auch Melli Beese aus dem Leben: Aus Verzweiflung über die Ablehnung ihres Lebensentwurfes und viele verlorene Träume legte sie Hand an sich und schoss eine Kugel durch ihren Kopf, auf einem Zettel die Worte hinterlassend: „Fliegen ist notwendig. Leben nicht.“ Post Scriptum: Welche Turbulenzen die alte Ordnung am Himmel erschütterten, beschrieb der Pilot Willy Hahn in Betrachtung seines Johannisthaler Lebens um 1913 wie folgt:
„Das Schlimmste waren die Weiber. Sie saugten manchem jugendfrohen Blut den Verstand aus dem Hirn und das Mark aus den Knochen, und wenn es dann galt, wieder draußen zu stehen in Gefahr, im Kampfe mit den Elementen, dann versagten die Nerven.“
Heute sitzen weit über hundert Pilotinnen für die Lufthansa am rechten Steuerknüppel und 27 ihrer Kolleginnen sogar als Flugkapitäne linkerhand! Von denen ist keine bis heute mit einem Verkehrsflugzeug vorzeitig geerdet, worin man sehen mag, dass die neue Ordnung der Dinge auch eine gute ist.

Glosse

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