Sportsfreund Lötzsch

Der Solist im Sattel
Erstveröffentlichung: 10.11.2009
„…der Radsport hat mein ganzes bisheriges Leben bestimmt und er wird es auch noch bis zu meinem Tod bestimmen. Der Radsport hat mir sehr viel gegeben: Härte, Durchsetzungskraft und Willensstärke.“

Am Fockeberg in Leipzig, jener Stadt, wo vor nunmehr 20 Jahren das Ende des Staates DDR einmarschiert wurde, vernimmt dies mit mehr oder minder großem Interesse eine Anzahl junger Menschen, etwas unruhig dabei scharrend in ihren bunten Sweatshirts, behelmt und mit hier und da futuristisch anmutendem Pedaluntersatz. Man will endlich starten. Doch halt. Es geht weiter: „Trotz Diskriminierung durch die DDRSportführung habe ich niemals aufgegeben. Ich freue mich, Schirmherr des Fockebergzeitfahrens zu sein. Ich wünsche allen Fahrern viel Spaß beim Kampf mit dem Rad gegen den Fockeberg.“ So soll es sein.

Der dies verlautbaren lässt, könnte der Opa vieler sein, die hier stehen und viele haben nicht einmal ansatzweise eine Ahnung, wovon der Mann spricht. Aber eines wissen hier die meisten – und das unterscheidet sie wahrscheinlich vom Großteil der Allgemeinheit dann doch: Wolfgang Lötzsch, der dies sagt, hätte heute einer sein können, den man mit Beckenbauer, Becker, Graf und Witt einen Mega-Star des deutschen Sportes nennt.

Ja, im Kreise der selbsternannten und selbst der wirklichen Experten ist man sich einig: Jan Ullrich war ein Jahrhunderttalent, Wolfgang Lötzsch vielleicht das größere. Dem einen verhalf nicht zuletzt der rechte Zeitpunkt seiner Geburt zur Ehre, als erster deutscher Sieger des legendärsten Radrennens der Welt, der Tour de France, in die Annalen einzugehen. Dem Anderen, dem Wolfgang Lötzsch, blieb dieses im Leben verwehrt – und nicht nur dies.


Aber von vorne

Im Dezember 1952 wird Wolfgang in der sächsischen Industriestadt Chemnitz geboren. Ein gutes halbes Jahr später trägt der Ort den die neue Zeit bezeichnendsten Namen: Karl- Marx-Stadt. Hier und andernorts in der jungen Republik, soll der neue Mensch geschaffen werden. Dabei steht auch bald der Sport an zentraler Stelle. Und so nimmt es nicht wunder, dass durch die mit den Jahren zunehmenden Möglichkeiten der sportlichen Betätigung viele Jungendliche den Weg in die zahlreichen Vereine und „Betriebssportgemeinschaften“ finden. Einer unter ihnen ist Wolfgang Lötzsch – und der ist ein Phänomen.

Wolfgang fällt das eine,
das Erfolgreichsein,
nicht schwer.

Groß und etwas schlaksig kommt er der Junge daher, der sechsjährig erstmals auf einem Fahrrad sitzt. In ihm steckt eine schier unbändige Kraft und: ein einzigartiger Wille. Diese – für aufstrebende Sportler – unerlässlichen Eigenschaften führen ihn zu Siegen und so widersinnig das klingen mag: in die Katastrophe seines Lebens. Am Anfang steht aber der Erfolg, und der wird für die ersten Jahre sein steter Begleiter. Gewann Wolfgang Lötzsch eines seiner ersten Fahrradrennen noch auf einem alten Damenrad, so wurde schon bald vieles an seiner Leidenschaft organisierter. Auf der Kinder- und Jugendsportschule, die nur ausgewählte Kinder mit besonderen sportlichen Talenten besuchen durften, richtet man den Nachwuchs programmatisch zum Erfolg ab. Wolfgang fällt das eine, das Erfolgreichsein, nicht schwer.

Er siegt und siegt und ist 1972 beinahe zwangsläufig vorgesehen für den Kader der DDRMannschaft, der nach München zu den Olympischen Spielen reisen soll. Und hier beginnt das Problem. Der Staat DDR ließ nämlich keine Sportler reisen – und vor allem nicht in das „nichtsozialistische Ausland“, zumal in die Bundesrepublik Deutschland, den westlichen deutschen Staat – die nicht zuverlässig im Sinne der Machthaber waren. Und das konnte Wolfgang nicht sein (so unterstellte man ihm). Denn der Junge war renitent, trat nicht wie viele „Leistungskader“ der Staatspartei SED bei, äußerte unbequeme Ansichten in aller Öffentlichkeit und hatte obendrein einen Cousin, der – ebenfalls Radrennfahrer – 1962 den Weg zum „Klassenfeind“ genommen hatte. Kurzerhand teilte man Lötzsch mit, nicht nur nicht nach München reisen zu dürfen, sondern gleich gänzlich aus dem Leistungssport der DDR entfernt zu werden.


Hier beginnt die Legende

Damit verlor er nicht nur seine Mannschaft und die Berechtigung, an sportlich wichtigen Rennen teilzunehmen. Auch Ausrüstung, die es nicht einfach zu kaufen gab, die vielmehr staatlich zugeteilt wurde, sowie die notwendige sportmedizinische Betreuung entfielen. Normalerweise sollte dies das Ende des Sportlers Wolfgang Lötzsch gewesen sein. Mitnichten! Und hier beginnt nun die Legende: Der Paria siegt nämlich nahezu und buchstäblich im Alleingang weiter und weiter und weiter. Jetzt meist nur bei Betriebssportrennen. Aber wo es offene Rennen gibt, bezwingt er auch die geförderte Leistungselite. Seine Spezialität sind Alleinritte sondergleichen, die ihm bereits in jungen Jahren einen Anflug von mythischem Glanz in der Szene geben.

Lötzsch gewinnt nicht nur rund 30 mal die DDRBestenermittlung der Betriebssportler, er wird auf der Bahn DDR-Meister in der 4000m-Einzelverfolgung, gewinnt die Radklassiker „Rund um Berlin“ und das längste Eintagesamateurrennen Prag-Karlsbad-Prag und vieles mehr. Ihn, der mit jedem seiner Siege dem Staatssport eine schallende Ohrfeige gibt, im wahrsten Sinn des Wortes zu stoppen, tritt das Ministerium für Staatssicherheit, die Stasi, auf den Plan. Ganze fünfzig Mitarbeiter (sic!) setzt das Mielke-Imperium auf den einen Mann an, provoziert Reaktionen, die ihn seine bürgerliche, seine sportliche Existenz kosten sollen.


Die Sucht nach Qual und Erlösung

Und so geschieht das Unvermeidliche: Ein Polterabend, es ist etwas lauter, die Polizei erscheint und Lötzsch ist natürlich der zu maßregelnde Rowdy. Das lässt dieser sich nicht gefallen und zieht verbal gegen Ordnungsmacht und Staat ins Feld. Sein Kampfeszug um Gerechtigkeit endet für ihn im Stasi-Knast. Zehn Monate sitzt er ein. Aber seine Liebe zum Radsport kann nicht gebrochen werden. In seiner Zelle trainiert er täglich mit unzähligen Kniebeugen und Liegestützen und man gewährt ihm – ein Angebot? – einen Fahrradergometer.

Kaum aus der Haft entlassen, bolzt er wieder Kilometer um Kilometer auf den Landstraßen. Es ist diese Besessenheit, die nur kennt, wer diesen Sport selbst so liebt, diese Sucht nach Qual und Erlösung, nach Weite und Einsamkeit, dieser Rausch der selbstgeschaffenen Geschwindigkeit, die ihn weiter Rennen fahren und: siegen lässt. Eigentlich im Radsport unvorstellbar, gewinnt er als Betriebssportler hinter den internationalen Größen Uwe Ampler und Olaf Ludwig die Bronzemedaille bei den DDR-Meisterschaften, wozu man sagen muß, dass der DDR-Radsport in diesen Jahren im Allgemeinen und die beiden genannten Herren im Besonderen zur absoluten Weltelite zählten.


Er wollte Sportler sein und wurde als Mensch abgestraft

Das Jahr 1989, die friedliche Revolution, die so maßgeblich von seiner sächsischen Heimat ausging und all die Möglichkeiten, die nun für Sportler aus dem Osten des Landes offen standen, kamen für den damals Enddreißiger zu spät. Der Ruhm, als erster Deutscher den wahren Olymp des Radsports zu erklimmen, die „Tour der Leiden“, die Tour de France, zu gewinnen, blieb einem anderen vorbehalten.

In der Fahrerszene spricht man bisweilen heute noch von dem Jahrhunderttalent Wolfgang Lötzsch. Darüber hinaus kennen nur wenige seinen Namen, auch wenn zuletzt ein Kinofilm mit dem etwas süffisanten Titel „Sportsfreund Lötzsch“ und eine Biographie in Buchform die Öffentlichkeit erreichten. Für ihn ist das alles nicht ohne eine gewisse Bitterkeit zu ertragen, auch wenn er in den seltenen Interviews eher wortkarg diesem Eingeständnis aus dem Weg geht. Lötzsch war nie ein politischer Mensch. Er wollte Sportler sein und wurde als Mensch abgestraft in den Irrsinnigkeiten des 20. Jahrhunderts. Als Mechaniker bei einem ehemals aufsehenerregend erfolgreichen deutschen Profirennstall in Wasserfarben montierte er Räder, wusch und fettete sie, schraubte und justierte für die Herren Profis. Auf die Frage eines Journalisten, wer sich um ihn kümmere, zögert er kurz und sagt: „Ich bin… Solist.“


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