Bekannt ist Eskişehir aber auch durch seine Dachziegelproduktion, die seit Bestehen der Republik existiert. Daher überrascht es nicht, dass viele Skulpturen im Stadtraum aus ebendiesem Material, dem Terrakotta, bestehen. Ein Großteil dieser Kunstwerke ist im Rahmen des Internationalen Terrakotta Symposiums entstanden, das nunmehr seit 17 Jahren immer im September im Stadtteil Tepebaşı stattfindet. Da der Stadtteil Tepebaşı seit 2011 Partnerstadt von Treptow-Köpenick ist, konnten in den vergangenen Jahren immer wieder Künstlerinnen und Künstler aus Treptow-Köpenick am Symposium teilnehmen. In diesem Jahr darf ich nun auch einen Beitrag zum Symposium leisten und möchte hier davon berichten.
In meiner künstlerischen Arbeit habe ich bereits mit vielen Materialien gearbeitet, und im Laufe der Jahre sind zahlreiche Skulpturen entstanden. Dennoch war es für mich eine Premiere, mit Keramik zu arbeiten und eine Skulptur für den öffentlichen Raum zu realisieren. Entsprechend aufgeregt, ob ich es wohl schaffe, meinen Ansprüchen zu genügen, machte ich mich auf den Weg nach Anatolien. Thema des diesjährigen Symposiums ist das Midas Monument. Eine von der Phrygischen Kultur vor 2500 Jahren in den Fels gehauene Tempel Fassade. Der Tempel, so sagt es eine Inschrift, wurde vom sagenumwobenen König Midas gespendet und war der Göttin Kybele geweiht.
Angekommen in Eskisehir geht es dann auch gleich am nächsten Morgen los. In einem ca. 500 m2 großen Atelier stehen die neun teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler und 25 Kunststudentinnen und -studenten, die uns assistiern sollen, in einem großen Kreis zusammen. Professor Bilgehan Uzuner, der Bildhauer, der dem Symposium seit 17 Jahren seinen geistigen und künstlerischen Überbau gibt, erläutert alle Details zum Thema. Es soll eine 5 mal 6 Meter große Replik des Midas Monuments in einer Gemeinschaftsarbeit entstehen. Die Skulptur soll von beiden Seiten bespielt werden.

Die Fassade des Monuments wird aufgeteilt und jeder bekommt neun Teile zur Gestaltung. Zur Umsetzung stehen sieben Tonnen Terrakotta bereit. Sportlich, denke ich mir, wenn man bedenkt, dass jede Arbeit mindestens drei Tage trocknen muss und 20 Stunden gebrannt wird. Und schließlich müssen alle Teile von allen Kollegen und Kolleginnen vor dem Ende des Symposiums zusammengefügt werden. Nachdenklich über die Konsequenzen meiner Zusage zum Symposium gehe ich zu meinem Tisch.
Hier wartet schon ein kleines Kästchen mit meinem Namen auf mich, in dem alle erdenklichen Werkzeuge zur Bearbeitung von Keramik waren. Kaum habe ich meine kleine Schatztruhe begutachtet, kommen zwei junge Studentinnen auf mich zu. Sie stellen sich mir als Yagmur und Aysima vor. In den nächsten zweieinhalb Wochen sind sie meine Assistentinnen. Welches Glück ich mit ihnen haben werde, wird sich im Laufe des Symposiums noch herausstellen.
Denn beide studieren Keramik und bringen Wissen, Talent und Verständnis für künstlerische Prozesse mit. So geben sie mir überhaupt erst die Möglichkeit, das umzusetzen, was ich vorhabe. Was ich vorhabe, weiß ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Um Inspiration zu suchen, beschliesße ich, mit meinen Assistentinnen zum Midas Monument zu fahren. Nach einer Stunde Fahrt durch die Anatolische Landschaft eröffnet sich schon in der Ferne die Sicht auf das 16 Meter hohe Midas Monument. Überall um die Tempelfassade herum ist der Fels ausgehöhlt. Ähnlich wie in Kappadokien nutzten die Höhlen früher als Wohn- und Grabstätten.

Allerdings sind die Felsen so stark verwittert, dass es eher den Anschein einer Kleckerburg aus Schweizer Käse hat. Das Monument selbst ist allerdings in einem unglaublich guten Zustand und ein haarscharfes Relief auf der Tempelwand zerschneidet präzise Licht und Schatten. Als wir die Umgebung erkunden, finden wir eine alte Zisterne und zahlreiche Grabkammern, die wahrscheinlich aus byzantinischer Zeit stammen.
Denn die roten Kreuze an den Wänden sind trotz des Versuches sie zu entfernen noch gut zu erkennen.Teils haben Generationen ihre Namen in den alten Putz geritzt. Über alledem fliegen unzählige Schwalben, die ihre Nester in den Höhlen gebaut haben. Da das Symbol für die Göttin Kybele, der das Monument geweiht war, eine Blume ist, sammeln wir Wildblumen. Wir packen die Blumen und unsere Eindrücke ein und fahren wieder zurück nach Eskisehir.
Auf der Dachterrasse meines Hotels denke ich noch bis spät in die Nacht über das Erlebte nach und wie ich es in eine künstlerische Form bringen kann. Am nächsten Morgen eröffne ich meinen Assistentinnen, dass wir circa Fünfhundert kleine Blumen formen werden, die das Relief des Monuments nachzeichnen sollen. Mohnblumen, Anemonen, Safrankrokus und die kleinen gelben Blumen, die wir am Monument gesammelt haben. Dazu etwa 200 kleine Blätter, denn Blumen ohne Blätter wirken nunmal nicht so lebendig.
„Ich kaufe einen großen Blumenstrauß und stelle ihn als Anschauungsmaterial und für die gute Stimmung auf den Tisch.“
Um die Arbeit rechtzeitig zu schaffen, bekomme ich mit Kader noch eine nicht weniger begabte Assistentin hinzu. Am dritten Tag, mit den Blumen liegen wir gut in der Zeit, soll die große Eröffnungsfeier stattfinden. Auf der Fläche des Parks, der an das Atelier grenzt, wird eine riesige Bühne aufgebaut. Hunderte Stühle, Blumenbuketts, große Banner mit der Nationalfahne umgeben die Bühne. Den Auftakt zur Eröffnungsfeier bildet ein riesiger Demonstrationszug der Kemalisten, der durch die Stadt zieht und vor der Bühne endet, wo schon unzählige Menschen darauf warten, dass die Eröffnung losgeht.
Nach dem förmlichen Teil soll der Musiker Yeni Türkü ein Konzert geben. Vergleichbar ist Yeni Türkü vielleicht mit Hannes Wader, Reinhard Mey oder Konstantin Wecker und so sind, als das Konzert anfängt, mehrere tausend textsichere Menschen vor der Bühne. Alle zwei Tage finden am Abend Konzerte statt. Von Lokalmatadoren bis zu super fancy Popgrößen, von traditioneller Musik bis zu Rock und Jazz ist für jeden etwas dabei. Jeden Tag finden Workshops statt. Kindergartengruppen, Schulklassen und Seniorengruppen strömen alle paar Tage durch das Atelier. Lokale Kunsthandwerker haben einen Markt aufgebaut. Es soll wirklich jedem und jeder in der Stadt einen Anreiz geben, vorbei zu kommen.
Ich bin wirklich nachhaltig davon beeindruckt, was in Eskisehir mit dem Symposium jedes Jahr auf die Beine gestellt wird und wie die sogenannte Hochkultur zusammengebracht wird mit Tradition, Popkultur, Bildung und damt der ganzen Bevölkerung ein Anreiz gegeben wird, zusammenzukommen und in Kontakt miteinander zu treten. Aus Deutschland kenne ich kein Beispiel hierzu, sondern eher im Gegenteil, hier ist eine Separierung von Kunstevents, Volksfesten und Musikfestivals üblich.
„Die bildende Kunst gibt sich bei uns eher elitär und wird auch so von Otto Normalverbrauchern belächelt.“
Und so möchte ich es mir nicht nehmen lassen, den Vorschlag zu machen, sich an Eskisehir ein Beispiel zu nehmen und unsere Volksfeste zu verbinden mit Kunst und Popkultur. Vielleicht können wir hier in Köpenick damit anfangen! Nach einer langen Nacht und einem arbeitsreichen vierten Tag sind die Blumen endlich fertig geformt und können zum Trocknen aufs Reck.
Jetzt kann ich mir auch um die anderen acht Teile Gedanken meiner Skulptur machen und hatte endlich Zeit mich mehr mit meinen Kollegen und Kolleginnen auszutauschen. Oya Uzuner, die Frau von Prof. Uzuner nimmt in Ihren Arbeiten die Midas-Saga auf und erarbeitet im Hochrelief wunderbare mystische Welten, die einem Garten Eden ähneln. Prof. Uzuner, alle Prozesse der Teilnehmer im Blick habend, bedient sich in seiner eigenen Arbeit Fragmenten der Phrygischen Kultur, collagiert und überlagert diese mit einem schier endlosen Repertoir an technischen Handfertigkeiten.
Auch eine kleine Statuette der Göttin Kybele kommt noch hinzu und soll das Herz des Monuments bilden. Veysel Özel, selbst ursprünglich Schüler von Prof. Uzuner nimmt sich die Ruinen der Phryger zum Vorbild und gestaltet eine Aufsicht einer Ruinenstadt, deren Straßen und Brücken jedoch in absurderweise in einer Klarheit verlaufen, dass es mich an Städte wie Pompeji oder dem Dorf Oradour-sur-Glane erinnert.
Orte, die mit unglaublicher Gewalt zerstört wurden und heute aufgeräumte Museen sind, deren Straßen für die Besucher so wiederhergestellt wurden, dass man gesittet durch die Brutalität der Zerstörung wandeln kann. Özkan İpekçi entwickelt in seiner Arbeit eine Traumwelt, in der man sich in den Anatolischen Bergen wiederfindet, mit Schwalben am Nachthimmel, oder sind es doch fliegende Fische? Nach dem geradezu barocken Blumenmeer, bei dem ich das Leben und die Schönheit der Welt feierte und der Göttin Kybele huldigte, entscheide ich mich, in den anderen acht Arbeiten den Verfall zu thematisieren.
Nun sollen Arbeiten entstehen, die von Anfang an zerbrochen sind, ausgewaschen, von Graffitis übersät, von Tieren besiedelt, Arbeiten die in Auflösung begriffen sind. Ich finde die Vorstellung, dass auch an der Replik des Monuments Schwalben fliegen werden, wunderbar poetisch. In der Hoffnung, dass es die Vögel anlocken wird, setze ich an den Giebel des Monuments verwaiste Schwalbennester. Diese sollen möglichst naturgetreu daherkommen und nicht wie aus Künstlerhand wirken. Also müssen diese so gefertigt werden, wie es die Schwalbe selbst macht.
Die Vögel sammeln an Flüssen, Seen oder Pfützen Lehm und formen ihn mit ihrem Schnabel zu kleinen Klumpen. Diese Klumpen drücken sie aneinander, bis sich, Stück für Stück, ein kuppelförmiges Nest gebildet hat. Also sitzen ich und meinen Assistentinnen jetzt da, wechseln von der Kunst in die Architektur und formen mit gespitzten Fingern kleine Klümpchen, mit denen wir Kuppeln bilden, bis eine kleine Kolonie aus Schwalbennestern entsteht.
Fast täglich taucht Dr. Amet Attach der Bürgermeister von Eskişehir Tepebaşı im Atelier auf, um sich zeigen zu lassen, was dort endsteht. Die häufigen Besuche zeigen, welche Wichtigkeit er der Kultur zumisst und so erklärt es auch die vielen Skulpturen und kulturellen Einrichtungen im Stadtgebiet. Bürgermeister Attach, so merkt man es schnell, ist ein Freund der Kunst und einer, der die Bürgerinnen und Bürger daran teilhaben lassen möchte.
Am Tag bevor die ersten Teile des Monuments zusammengefügt werden sollen, bekomme ich am frühen Morgen ein Bild mit farbig glänzenden Blumen von Prof. Uzuner auf mein Telefon gesandt, wodurch mein Frühstück recht schnell vorbei ist. Denn der Glasurbrand der Blumen ist fertig und voller Neugier eile ich zum Ofen. Angekommen im Innenhof von Prof. Uzuners Atelier, wo der Ofen steht, sehe ich ihn schon lächelnd vor einem Meer aus Blumen stehen. Sie sind gelungen und das verdammt gut.
Gemeinsam bringen wir die glasierten Blumen unter den staunenden Blicken aller Anwesenden ins Atelier. Darauf stoßen wir mit einem Chai an. Nicht, dass jeder von uns ohnehin in diesen Tagen literweise Chai getrunken hätte, doch der Augenblick ist perfekt für einen Moment des Ausruhens und Teetrinkens. Meine Zahnärztin wird es mir sicher danken, denn die Gerbstoffe im Chai haben das Potenzial, jedes Weis der Zähne zu färben.
Am Tag darauf geht die Aufbauphase los und alle Beteiligten strömen zu einer Grünanlage in der zentralen Innenstadt. Der Ort, wo die Replik des Monuments stehen soll. Von diesem Tag an ist das Atelier nahezu verwaist, denn alle sind auf der Baustelle. Ein Gerüst wird aufgebaut und drei Arbeiter, Prof. Uzuner und Veysel, der ehemalige Schüler klettern auf dem Gerüst herum. Sie hantieren mit Mörtel, nehmen immer wieder Maß und geben Anweisungen an den unten stehenden Pulk aus Assistenten. Andere sitzen in kleinen Grüppchen auf der Wiese und beobachten das Geschehen.
Ein Rudel Straßenhunde gesellt sich hinzu und läßt sich mit Streicheleinheiten und Leckerlis, die wie ein Wunder aus den Taschen der Assistenten erscheinen, verwöhnen. Zwischendurch gibt es immer wieder Tumult, wenn etwas nicht passt und jeder tatkräftig mit diskutiert, wie das Problem zu lösen sei. Pünktlich zum letzten Tag des Symposiums wird das Monument fertig und mit einer großen Erleichterung und ausgelassener Stimmung gibt es ein Selfie-Exzess vor dem Monument, an dem sich auch der Bürgermeister beteiligt. Denn jeder will mit jedem ein Andenken an diese zweieinhalb Wochen voller Arbeit, Austausch, Lachen und gemeinsamen Essen mit sich nehmen.
Bei der großen Abschlussveranstaltung wird neben den obligatorischen Reden von Politik, Sponsoren und einigen Künstlern besonders den Assistenten gedankt. denn, so wissen es alle, haben sie die meiste Arbeit gehabt und das ganze Symposium wäre ohne sie nicht umsetzbar gewesen. Nach der Gratulation gibt es wieder ein großes Konzert und es ist ein wilder Abend bis spät in die Nacht. Ich könnte von so vielen weiteren Momenten schreiben, die während der Zeit in Eskisehir passierten, etwa dem Besuch der Universität mit meinen Assistentinnen, um mir ihre Arbeiten zeigen zu lassen, dem wundervollen Abend mit Özkan im Park in seiner Nachbarschaft, dem Besuch im Kunstmuseum MMO oder dem Ausflug am Morgen mit Veysel, um eine Patca, eine Schafkopf Suppe, zu essen.
Da mein Flieger gegen Mittag in Istanbul starten soll, muss ich Eskisehir schon früh um sechs verlassen. Dieses Mal geht es in der Dunkelheit durch die anatolischen Berge und die Sonne sollte erst über dem Bosporus aufgehen. Voller Vorfreude auf meine kleine Tochter und voller Wehmut auf zurückgelassene Freunde träume ich mich durch den Flug, bis ich mich auf der wolkenverhangenen Landebahn des BER wiederfinde.










