Frau Ramelow ist so um die 70, aber äußerst rüstig und agil. Sehr agil. Sie wohnt bei mir in der Straße, doch da sehe ich sie eigentlich nie, meistens läuft sie mir an den unmöglichsten Stellen über den Weg. Gestern zum Beispiel im Zooladen in Steglitz. Obwohl ihr Dackel Richard schon vor sechs Jahren gestorben ist – das hat sie mir erzählt.
Ich habe Frau Ramelow schon fast überall getroffen: vor dem Standesamt, in dem mein Freund Thorsten geheiratet hat, bei einem System of a Down Konzert in der Arena, beim Angeln am Müggelsee und sogar an der polnischen Grenze in Frankfurt/Oder. Letztes Jahr, als ich in Dänemark war, hätte ich schwören können, ich hab sie auf dem Seitenstreifen der Autobahn in die andere Richtung entlang laufen sehen. Wenn es sich ergibt und wir uns unmittelbar begegnen, erzählt sie mir Dinge. Dinge, die sie mir schon hundertmal erzählt hat – dass sie Tulpen mag zum Beispiel, dass ihr 1952 mal ein Käsekuchen angebrannt ist und dann wegen des Qualms das ganze Haus evakuiert werden musste, von ihrem Dackel Richard, der sich zum Pinkeln auf die Vorderpfoten stellte, von ihrem Mann Hartmut, der sich zum Pinkeln auf die Hinterpfoten stellte, von ihrem dicken Enkel Erich, von dem sie immer ein Foto dabei hat.
Es ist, als würde man Frau Ramelow und ihren immer gleichen Geschichten nicht entkommen können, egal wohin man flieht. Gut, es ist nichts, aber auch gar nichts Verwerfliches daran, wenn alte Menschen sich ausgiebig bewegen und Dank der Kraft der zwei Herzen oder einem Schuss Klosterfrau Melissengeist im Morgen-Müsli die Kondition von Marathon-Läufern und den jugendlichen Geist von Harvard-Absolventen nach dem Fasten haben, aber: Das eigentlich Verwunderliche ist, das Frau Ramelow immer nur zu Fuß unterwegs ist! Immer und nur – darauf bitte ich den Fokus zu legen! Sie hat kein Auto, mag keine S- und U-Bahn und seid ihr Fahrrad im März 2002 gestohlen wurde, kauft sie sich kein neues mehr, weil sie Angst hat, dass man es ihr wieder klaut. – Die Wahrscheinlichkeit dafür ist nämlich sehr hoch, im Westen, sagt sie.
Bisher habe ich es immer einfach so hingenommen, dass Frau Ramelow eben einfach viel unterwegs ist, weil man ja als Rentnerin Zeit hat und so, aber als meine Frau gestern steif und fest behauptete, sie hätte Frau Ramelow gegen 15 Uhr am Bahnhof Köpenick gesehen – zu eben jener Zeit, in der ich sie im Zooladen in Steglitz getroffen habe
… seitdem, also …
Seitdem bin ich der felsenfesten Überzeugung, es gibt mehrere Frau Ramelows. Ja, vermutlich gibt es eine Frau-Ramelow-WG hier nebenan und die besprechen sich jeden Morgen am Frühstückstisch, wer heute wann wohin geht – vermutlich einzig zu dem Zweck, mich zu verwirren. Und je mehr ich darüber nachdenke, umso logischer erscheint mir meine Theorie – wie sonst sollte eine einzige alte Frau immer und überall gleichzeitig sein? Und wieso sollte sie immer aufs Neue vergessen, dass sie mir ihre Geschichten von Richard und Erich und dem Käsekuchen schon hundertmal erzählte. Oder hat sie sich vielleicht geklont? Immerhin war sie früher mal Biologie-Lehrerin – hat sie mir auch erzählt – mehrmals natürlich.
Letztens hat sie mich doch tatsächlich gefragt, seit wann ich einen Hund habe. Seit elf Jahren, Frau Ramelow, hab ich gesagt. Und Sie haben ihm sogar schon mal so eine kleine Mini-Salami aus dem LIDL mitgebracht, erinnern Sie sich? – Sie erinnerte sich nicht, aber nickte lächelnd.
Alles sehr verwirrend, finden Sie nicht? Zu verwirrend, meiner Meinung nach.
Heute Morgen bin ich dann, nach einer schlaflosen Nacht, früh um sieben Uhr, zur Haus-Nummer 36 meiner Straße geschlichen – hier wohnt nämlich nach eigener Aussage Frau Ramelow – und habe das Klingelschild studiert. Und was soll ich Ihnen sagen? Der Name stand dort nicht! Keine Frau Ramelow in Nummer 36! Nicht mal eine einzige! – Und jetzt frage ich Sie – nein, ich bitte Sie voll Innbrunst – helfen Sie mir! Was soll ich tun, wenn sie mir das nächste Mal begegnet? – Soll ich sie ignorieren und so tun, als ob nichts wäre? Soll ich ihr ein „Sie Lügnerin!“ entgegenpfeffern oder vielleicht die Polizei informieren, dass es hier eine Rentnerin gibt, die es gar nicht gibt, die aber immer und überall gleichzeitig ist?
Um Gottes Willen, was soll ich bloß tun?
Die unheimliche Frau Ramelow
Erzählung
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