Was bleibt?

Der große Dekadenrückblick
Die 60er waren Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll, in den 70ern gab es überall Hippies und von den 80ern sind fragwürdige Modegeschmäcker und Frisuren hängengeblieben. Die 90er sind für mich das Jahrzehnt der Digitalisierung und einer gravierenden marktwirtschaftlichen Veränderung. 2019 endet wieder eine Dekade. Es ist die erste, die ich bei vollem Verstand miterlebt habe. Daher möchte ich mithilfe dieses Rückblicks herausfinden, wofür die 2010er Jahre wohl in die Geschichtsschreibung eingehen werden. Beginnen wir, wie es üblich ist, am Anfang des Jahrzehnts.
Stich eines Kormoranschädels
Bild: Adobe Stock

2010

2010 war definitiv das Jahr der Karrieren und Karriereenden. Lena Meyer-Landrut gewinnt für Deutschland den Eurovision Songcontest und wird damit über Nacht zu sowas wie der weiblichen Messias des Deutschpops, der zu diesem Zeitpunkt eine bis heute nicht enden wollende Karriere bevorsteht. Beendet wird hingegen die Karriere von Horst Köhler, der nach einem verwirrenden Interview über den Sinn und Unsinn deutscher Soldaten in Afghanistan von den Onlinemedien aus dem Amt gemobbt wird. Er macht mit seinem Rücktritt Platz für die vielversprechende Karriere von Christian Wulff. Die Deepwater Horizon explodiert und leitet das Ende des Ölzeitalters ein. Die Folgen der Ölpest haben bis heute schätzungsweise 100.000 Karrieren in der Landwirtschaft und dem Fischereigewerbe vernichtet. /// Vogel des Jahres: Der Kormoran.

2011

Ein Tsunami trifft die japanische Ostküste und es kommt im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zu drei verheerenden Kernschmelzen, die das Ende des Atomzeitalters bedeuten. Der BER wird eröffnet! Also zumindest soll er das: Der ursprüngliche Eröffnungstermin vom November 2011 wird auf Juni 2012 verschoben. Kann ja mal passieren. Die NASA schießt den Mars-Rover „Curiosity“ ins All. Er soll etwa ein Jahr später auf dem Mars landen und das erste Mal in der Menschheitsgeschichte Bilder vom Roten Planeten an die Erde übermitteln. /// Fisch des Jahres: Die Äsche.

2012

„Curiosity“ landet wie geplant auf dem Mars und schickt beeindruckende, hochauflösende Farbbilder zig Millionen Kilometer weit an Houston zurück. Brandschutzprobleme am BER sorgen für eine Verschiebung der Eröffnung auf August 2013. Deutschland drückt weiterhin die Daumen. Die Karriere von Christian Wulff nimmt nach diversen Affären ein vorzeitiges Ende, „Ehrensold“ wird zum inoffiziellen Unwort des Jahres.

Der Krieg in Syrien wird als globale Bedrohung eingestuft und das Deutsche Topthema des Jahres ist: Mit welcher Aufstellung hätten wir gegen Italien gewonnen? Das Ende des Maya-Kalenders hätte diesen Dekadenrückblick enorm abkürzen können, hat es aber nicht, die Welt dreht sich weiter und hat keine Ahnung, was ihr noch bevorsteht. /// Jugendwort des Jahres: YOLO. Wie passend.


2013

2013 ist eigentlich nichts Wichtiges passiert. Irgendeine eurokritische Splitterpartei hat sich in Oberursel gegründet und wenn das das Topthema ist, lässt sich schon erahnen: Es ist mit Abstand das langweiligste Jahr des Jahrzehnts. Oder erinnern Sie sich noch an irgendetwas, was 2013 passiert ist? Eben. /// Schmetterling des Jahres: Der braunfleckige Perlmutterfalter.


2014

Dieses Jahr hatte es hingegen in sich! Weltmeisterjahr! Verschwundenes Flugzeug! Ukraine! Aber auch wichtige innenpolitische Veränderungen prägen das Land: „Wetten, dass…“ wird abgesetzt und stürzt zahlreiche biodeutsche Mehrgenerationenhaushalte in eine tiefe Samstagabendsinnkrise, die Kniffeln wieder zum Volkssport werden lässt. Die schlimmste Ebola-Epidemie seit Entdeckung des Virus wütet in weiten Teilen Westafrikas, und in Rudolstadt findet das 292. Rudolstädter Vogelschießen statt. Wir schreiben global das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung, was ein Umdenken in der Umweltpolitik bewirkt. /// Lurch des Jahres: Die Gelbbauchunke.


Kartoffelstich
Bild: Adobe Stock

2015

Definitiv das Arschlochjahr der Dekade. Die zuvor beiläufig erwähnte, eurokritische Splitterpartei aus Oberursel macht sich die Eskalation in Syrien politisch zunutze und aus der Eurokritik wird plötzlich eine erschreckend erfolgreiche Menschenkritik.

Zeitgleich ertrinken im Mittelmeer viel zu viele Menschen und ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung scheint die Welt langsam wieder Unterschiede statt Gemeinsamkeiten zu suchen.

Während in Deutschland Flüchtlingsheime angezündet werden, brennt religiöser Hass eine nie heilende Wunde in die Stadt der Liebe. Es ist zweifelsfrei das Jahr des Terrors, der Unglücke, der Anfeindungen. /// Kartoffelsorte des Jahres: Die Heideniere.


2016

Die Briten entscheiden sich in einem Referendum für den Austritt aus der Europäischen Union und im Grunde weiß bis heute kein Mensch, was genau das jetzt konkret bedeuten soll.

Ansonsten ist 2016 das Jahr der Horrorclowns: Ein Netzphänomen hält ganz Deutschland in Atem und Donald Trump wird offizieller Präsidentschaftskandidat für die Republikaner. /// Pilz des Jahres: Der Lilastiel-Rötelritterling


2017

In Deutschland beschäftigen die G20-Proteste in Hamburg die Medien und werden nun als Sinnbild von „Linksterrorismus“ für die nächsten 100 Jahre Gültigkeit in rechten Kreisen besitzen. Angela Merkel überlebt den dritten Bundespräsidenten ihrer Amtszeit, von nun an wird Frank-Walter Steinmeier an Stelle von Joachim Gauck deutsche Fähren taufen. Christian Lindner will lieber nicht regieren, als falsch zu regieren und Großbritannien will lieber nicht austreten, als falsch auszutreten. /// Streuobstsorte des Jahres: Wetzlarer Hartapfel.


2018

Es gibt wieder mal einen neuen Hitzerekord und eine Dürreperiode in ganz Europa. Eine 15-jährige Schülerin schwänzt in Schweden an einem Freitag die Schule und tritt damit eine Bewegung los, der ein Jahr später zwischen 4 und 7 Millionen Menschen folgen werden.

Donald Trump trifft Kim Jong-un und macht klar, dass Diktaturen heute mehr denn je in Ordnung sind, solange sie noch als potenzieller Absatzmarkt fungieren können. Horst Seehofer wird 69 Jahre alt und offenbart seinen Humor mit einem Witz zu zeitgleich 69 abgeschobenen Flüchtlingen nach Afghanistan, von denen sich wenig später mindestens einer das Leben nehmen wird. Die Realpolitik hat die Menschlichkeit in diesem Jahr am Rastplatz angebunden und ist anschließend allein nach Disneyland gefahren - um es anzuzünden. /// Gewässertyp des Jahres: Der sandgeprägte Tieflandbach.


2019

Und heute? Die Türkei greift Syrien an, Chinesen greifen Hongkonger an, der Iran greift Iraner an. Zum Lachen gab es Galgenhumor, ausgelöst durch zugekokste Rechtsextreme auf Ibiza, deren Demokratieverständnis dabei aber so ernsthaft verstörend sein sollte, wie die diesjährigen Mordattentate auf Andersdenkende und -gläubige in Deutschland. Es gibt schon wieder neue Rekordtemperaturen, dafür jetzt aber auch einen Rekord im Produzieren von Plastikmüll. /// Giftpflanze des Jahres: Der Aronstab.


Maya Kreis
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Wofür wird die kommende Dekade stehen?

Ich denke, es ist nicht abwegig, zu behaupten, dass die 2010er als Jahre der Teilung und des Egoismus in die Geschichte eingehen werden. Das kann man nun leicht als Millenial-typischen Kulturpessimismus relativieren. Doch im Gegensatz zu den Nullerjahren, in denen der globale Terrorismus und der Irakkrieg als einschneidende Erlebnisse in Erinnerung bleiben, werden die aktuellen Katastrophen auf sehr viel kleineren, zwischenmenschlicheren Ebenen ausgetragen.

Freundschaften und Familien brechen auseinander, weil Konflikte nicht mehr gelöst, sondern als unauflösbare Dilemmata abgetan werden. Man driftet auseinander, zieht sich in seine „Bubble“ zurück, anstatt Lösungen zu suchen, auf die so dringenden Fragen der letzten Jahre.

Ich wünsche mir, dass die 2020er als Jahre der Versöhnung und des Realismus in die Geschichte eingehen werden. Dass wir aus unseren Konflikten lernen - wir müssen sie gar nicht endgültig lösen, aber wir sollten sie definitiv anders austragen als mit Hass und moralischer Überlegenheit. Besinnen wir uns zurück auf Fakten, sprechen wir Meinungen aber nicht ihren Anspruch ab. Schieben wir unsere vielen kleinen Tische etwas näher zusammen und lauschen den Gesprächen unserer Nachbarn, ohne reinzubrüllen oder abfällig zu lachen.

Denn wenn wir das nicht tun, werden wir uns noch weiter entfernen und am Ende so weit auseinander gerückt sein, dass wir die Sprache der anderen verlernen.

Ich wünsche allen ein friedliches 2020 und eine Dekade, die unseren kommenden Generationen einen Grund gibt, stolz auf uns zu sein.


maulbeerblatt ausgabe 87 Editorial

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