Die Bankenkrise hält uns im Würgegriff, beim Verfassungsschutz laufen die Aktenschredder heiß und der neue Hauptstadtflughafen erweist sich schon vor Eröffnung als marodes Lügengebäude. Können Sie all das in einem Zusammenhang beschreiben?
Der Zusammenhang besteht darin, dass sich der Sozialstaat, dass sich die Demokratie abbaut, dass das Geschäftemachen einen immer größeren Stellenwert bekommt. Das hängt damit zusammen, dass mit dem kalten Krieg auch der Wettbewerb beendet ist, wer demokratischer, wer sozialer ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat nichts mehr davon, sozialer und demokratischer als Portugal zu sein.
Im Verhältnis zur DDR hatte sie das sehr wohl interessiert. 1990 habe ich vor Gewerkschaftern in den alten Bundesländern gesprochen und sie darauf hingewiesen, dass da viel Sicherheit, die sie immer hatten, wegfallen wird. Die DDR entfaltete ihre besten Wirkungen in der Bundesrepublik, nicht bei den eigenen Bürgerinnen und Bürgern.
Ist das BER-Desaster lediglich ein regionales Ärgernis oder wird für Sie ein strukturelles Problem erkennbar?
Das ist ein strukturelles europäisches Problem. Unsere Mobilität hat die Erde verändert. Es gibt keinen Ort, den man nicht innerhalb von 24 Stunden erreichen könnte. Die Politik ist darauf nicht eingestellt. Der Umgang mit Flüchtlingen ist da nur ein Beispiel. Es gibt keine Lösungen, außer dass sie im Mittelmeer ertrinken, oder dass man versucht, sie los zu werden.
Bisher hat sich Europa darauf verlassen, dass man in Afrika nicht wusste, wie wir leben. Wenn aber jedes Dorf ein Fernsehgerät hat, selbst wenn man dort nur sowjetische Filme sehen kann, fragen die sich, wieso sie so leben wie sie leben und andere so, wie sie das sehen. Die Regierenden haben darauf keine Antwort. Sie machen keine gerechte Weltwirtschaftsordnung.
Das andere strukturelle Problem ist, dass wir in Europa die Frage nicht entschieden haben, wie man eigentlich Flughäfen baut, wo man sie baut, wie sehr man die Natur und vor allem die Menschen belasten und belästigen darf. Hinsichtlich des Nachtflugverbotes wird diese Frage womöglich vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschieden.
Es muss einen Vorrang der Gesundheit der Menschen vor der Wirtschaftlichkeit eines Flughafens geben. Deshalb könnte es sein, dass der europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wenn nicht schon unser Bundesverfassungsgericht, sagt, hättet ihr den Flughafen in Sperenberg gebaut, hättet ihr kein Nachtflugverbot von 22 bis 6 Uhr riskieren müssen. Wenn ihr ihn allerdings unmittelbar an den Rand einer Großstadt, an den Rand vieler Städte in Brandenburg baut, dann ist die Wirtschaftlichkeit eingeschränkt.
Es ist eine strukturelle Frage und sie steht im Zusammenhang mit der Bankenkrise. Die Verluste tragen immer die Bürger, die Gewinne werden hingegen von einigen Wenigen unter sich verteilt. Das ist beim Flughafen so und das ist bei der ganzen Eurokrise so. Wir helfen doch bisher keiner einzigen Griechin und keinem Spanier, es werden nur Banken und Hedgefonds gerettet, allein darum geht´s. Das muss aufhören.
Wie bewerten Sie als Jurist das jüngste Leipziger Urteil zur Planfeststellung des BER?
Da wird ein Umgang von Behörden mit den Bürgern genehmigt und geduldet, den man im Privatleben niemals genehmigen und dulden würde. Wenn ich mit jemandem einen Vertrag schließe und ich habe so viel brisantes Wissen, welches ich ihm vorenthalte, würde der Vertrag für nichtig erklärt.
Den staatlichen Behörden lässt man das durchgehen. Das gefällt mir nicht. Die Initiatoren wollen Verfassungsbeschwerde einlegen. Richtig so, man sollte sich das nicht bieten lassen. Mal sehen, ob das Bundesverfassungsgericht die Sache anders einschätzt als des Bundesverwaltungsgericht.
Wäre es nicht an der Zeit, den Standort noch einmal grundsätzlich im Frage zu stellen?
Daran glaube ich nicht. Dazu sind zu viele Milliarden verbaut worden, den Mumm hat keiner. Ich kenne die Bundesregierung, ich kenne auch ein bisschen die Landesregierung, das machen die nicht. Das Geld haben die auch nicht.
Aber was wir durchsetzen können, sind Bedingungen, dass sie tief bereuen, sich für Schönefeld statt für Sperenberg, entschieden zu haben. Ich glaube nicht an einen neuen Standort, aber wir müssen andere Bedingungen durchsetzen. Und dann muss man mal sehen, wenn sie immer noch ein Drehkreuz wollen – tja Sperenberg ...
Zur Zeit stünden etwa 4 Milliarden im Raum, wenn das Ganze in den Sand gesetzt wäre.
Das ist happig, das sind Steuergelder, dafür müssten viele lebenslänglich in den Knast.
Wäre es nicht ein günstiger Preis, wenn man dafür etwas Glaubwürdigkeit in politisches Handeln zurückgewinnen könnte
Viele haben auf den BER gesetzt, für die wäre das wiederum völlig unglaubwürdig. Das positive Moment wäre, allerdings, dass die Politik in Europa daraus lernt: So was dürfen wir nie wieder machen, dass wir Milliarden in den Sand setzen, um danach doch woanders bauen zu müssen. Aber ob die Politik dazu fähig ist? Ich glaube nicht.
Vielfach hört man wieder: Das ist ja wie im Osten!
Das Erste, was man aus dem Osten übernommen hat, sind die Bauzeiten. Aber mit folgendem Unterschied: Im Osten konnte es versehentlich passieren, dass man eine Straße aufriss, ein Rohr legte, etwas vergaß und wieder aufreißen musste. Heute steckt Absicht dahinter. Das ist das Neue. Erst kommt ein Auftrag für das Rohr, dann kommt der Auftrag für die Telefonleitung, dann wieder für etwas anderes und die Firma, die die Straßen aufreißt, hat nichts dagegen dies dreimal zu tun, weil sie ja dreifach daran verdient. Und dann gibt es Leute in den Behörden, die das nicht zusammenführen und gar nicht zusammenführen wollen.
Ich musste erst begreifen, dass es nicht wie im Staatssozialismus aus Versehen passiert, weil jemand schläft, sondern dass Absicht dahinter steckt. Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist bloß übrig geblieben. Irgendwann wird es einen Demokratischen Sozialismus geben. Einen undemokratischen wollen wir alle nicht mehr, aber ein demokratischer löst die Probleme anders als der Kapitalismus.
Sind sie optimistisch, dass Die Linke dazu einen Beitrag leisten kann?
Ich bin wieder optimistischer. Ich habe ja eine Art Gewitterrede gehalten auf dem Parteitag und danach hatten wir zwei Fraktionssitzungen, die waren geradezu phantastisch. Wir müssen wieder politischer werden. Wir sind ein wichtiges Korrektiv in der Gesellschaft. Ohne uns gäbe es keinen Widerspruch zum Krieg in Afghanistan, keinen Widerspruch zur Rente ab 67, keinen Widerspruch zur völlig verfehlten Europapolitik der Regierung. Wir haben keine Mehrheit, um das durchzusetzen, aber es ist nicht ohne Wert, dass es diesen Widerspruch gibt und dass er im Bundestag artikuliert wird.
Ihr Widerspruch führt auch dazu, dass Teile der Partei überwacht werden. Halten Sie es für möglich, dass Bürger und Bürgerinitiativen zum Ziel von Verfassungsschutzüberwachung werden, auf Grund ihres Engagements – beispielsweise gegen Fluglärm?
Ja, das halte ich für möglich. Damit muss man rechnen, wenn sie zu sehr stören und sich auf bestimmte Art organisieren. Ich finde, dass man den Verfassungsschutz abschaffen könnte, diesen Pfeifenverein. Wenn ich an die rechtsextreme Gewalt denke – nichts haben sie mitgekriegt, vielleicht haben sie es sogar unterstützt. Das wäre ja noch einen Zahn schärfer.
Mindestens müßte man ihn gänzlich umstrukturieren. Im Moment ist nicht nur das Soziale gefährdet, sondern auch die Demokratie. Deshalb ist eine Linke besonders wichtig und deshalb muss sie sich wieder stärker in das Denken und Fühlen der Menschen einbringen.
Wie würden Sie Ihren Heimat- und Wahlbezirk Treptow-Köpenick beschreiben?
Treptow-Köpenick ist ein ausgesprochen spannender Bezirk, weil alle Widersprüche dieser Stadt hier existieren. Wir haben hier richtig Reiche und richtig Arme, wir haben Hochintelligenzarbeitsplätze in wissenschaftlichen und technologischen Bereichen, wir haben sogenannte einfache Arbeitsplätze und wir haben leider auch Rechtsextremisten. Das empfinde ich als Herausforderung.
Für mich ist es Berlins schönster Bezirk. Wo sonst gibt es so viel Wasser und Wald? Wir haben auch einen Müggelturm, der leider seit mehr als 20 Jahren verkommt. Unverständlich, weshalb man da als Stadt nichts leisten kann.
Und dann haben wir noch mit dem Hauptmann von Köpenick das Schlitzohrige. Das sollte man auch nicht unterschätzen im Leben. Der hatte ja was drauf, der Hauptmann. Sein Glück war schließlich, dass der Kaiser einen guten Tag hatte und lachen konnte. Wer weiß, wie es ihm sonst ergangen wäre. Ich bin in Johannisthal aufgewachsen. Dort sagten die Leute immer, wir fahren heute in die Stadt. In Treptow-Köpenick sollten wir endlich verstehen, wir sind hier in der Stadt.
Den Mumm hat keiner
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