Unsere Spitzenkandidatin Friederike Hagen – Mutter, Frau und Ehefrau – lässt sich nicht entmutigen und sammelt ihre ersten schmerzhaften Erfahrungen mit der Politik. Ist das Kind in der Schule, freut sich der Mensch. Nun könnte auch Friederike Hagen in aller Ruhe das Frühstücksfernsehen genießen, das traute Heim auf Hochglanz trimmen oder mit den besten Freundinnen durch die Boutiquen ziehen. Letzteres schiene dringend geboten, denn ein fl üchtiger Blick in ihre vollen Kleiderschränke off enbart eine traurige Wahrheit – Friederike hat nichts anzuziehen. All den Plunder trug sie bereits im letzten Jahr und das eine oder andere sogar im Jahr zuvor! Na und? Und wenn schon! Entschlossen wirft sie sich in ihren alten Mantel, schlägt den Kragen hoch und geht hinaus in die Eiseskälte. Tapfer wie ein Zinnsoldat macht sie sich auf den Weg zum Wähler. „Warum tust du dir das an?“, haben wir gefragt. Da hat sie nur gelacht.
„Als Ihre neue Bürgermeisterin möchte ich künftig die Welt verändern!”, erklärt sie wenig später einer freundlichen Dame an der Straßenbahnhaltestelle. „Wenn Sie mir dieses Formular ausfüllen könnten, wäre das echt toll. Wir brauchen 185 Unterschriften, um bei der Wahl dabei zu sein.” „Sehr gern, aber ich glaube, da sollte ich vorher meinen Mann fragen. Ich habe schon einmal etwas unterschrieben. Seither unterschreibe ich lieber gar nichts mehr.”
Es hält eine Bahn und die Frau steigt ein. Friederike zieht weiter. Der Herr mit dem Hund sieht vielversprechend aus. „Einen schönen guten Tag, haben Sie einen Augenblick Zeit für mich? Als Ihre neue Bürgermeisterin möchte ich ab September die Welt verändern!” „Sie kenne ich doch! Sie sind doch die Lena aus dem Fernsehen! Unsere Lena aus Oslo! In echt wirken Sie ganz anders, viel kleiner und auch eher blond! Würden Sie wohl meiner Enkeltochter Jasmin ein Autogramm geben? Ich bin sicher, die würde sich riesig freuen!” Ach was soll's, dann bekommt wenigstens die kleine Jasmin heute eine begehrte Unterschrift.
Vor der Kaufhalle bietet sich Friederike eine neue Chance. Umgehend findet sie sich vom Wahlvolk dicht umringt. „Ihr Politiker seid doch alle gleich!” „Nachbars Hund scheißt immer in meinen Vorgarten!” „Ja, und das Benzin wird auch immer teurer!” Als Friederike schließlich einen Stapel Formulare aus der Tasche zieht, treibt es die Menge auseinander. Drei junge Kerle bleiben stehen, noch nicht ganz ihr Alter, aber immerhin. „Wo sollen wir unterschreiben, Baby?” „Super Jungs, ihr seid spitze! Ich wünsche euch einen schönen Tag!” Das ist der Durchbruch! Der Anfang ist gemacht. In der Hand hält sie drei Zettel mit den Handynummern von Dennis, Tommy und Erdal aus Neukölln. Na toll, für eine Wahlanmeldung in Köpenick kann sie die vergessen. „Was hast du denn gedacht, Friederike? Haben wir doch gleich gesagt, ein Spaziergang wird das nicht. Wenn du in die Politik willst, musst du schmerzfrei sein. Du musst leiden können wie ein Tier und dabei lachen, als ob es um dein Leben ginge.“ Ihr Blick, der uns nun traf, lässt sich mit Worten nicht beschreiben.
Keine zehn Minuten später stehen wir mit unserer Spitzenkandidatin vor einem Tatoo-Studio am Bahnhof Köpenick. „Carpe Diem“ heißt der Laden. Egal, der Tag ist ohnehin im Eimer. „Du musst das nicht machen!“, haben wir gesagt. „Uns brauchst du wirklich nichts beweisen“, haben wir gesagt. „Komm, lass uns einfach nach Hause gehen!“ „Hast du dir das wirklich gut überlegt?“, fragt der Chef. „Du kannst auch einfach nach Hause gehen.” „Fang an!“, sagt Friederike und beißt die Zähne zusammen. Der Tatoo-Meister lässt noch einmal seine Fingerknochen knacken, dann macht er sich an die Arbeit. „Ich hab ja schon einiges gesehen, aber das …“ Emsig sticht die Nadel blaue Farbe unter die Haut. „Wer in die Politik will, muss leiden können!“, lacht Friederike Hagen. Der Chef zeigt sich schließlich mit seinem Werk zufrieden. „Wird Köpenick eigentlich mit CK geschrieben?“ Friederike scheint einer Ohnmacht nahe. „Keine Angst. War nur ein Scherz. Sieht alles voll korrekt aus. Aber warum hast du dich denn nun für dieses Motiv entschieden?“ „Ich habe eine eigene Wählergemeinschaft gegründet. Nach der Wahl im Herbst will ich als neue Bürgermeisterin in Köpenick die Welt verändern!“ „Hast du denn schon deine 185 Unterschriften beisammen?“
Friederike ist sprachlos und holt ein Formular aus ihrer Tasche.
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