Passengers

Please change here!

Es war doch nun wirklich nicht alles schlecht im Osten! Sandmännchen, grüner Pfeil, öffentlicher Nahverkehr, die Autobahnen? Selbst die Mauer ist ein Besuchermagnet geworden. War wohl sehr weitblickend vom Herrn Ulbricht. Oder, das Ostkreuz zum Beispiel, zentraler Umsteigeplatz im ÖPNV der Hauptstadt der sogenannten ehemaligen DDR. Ein wundervolles Beispiel dafür, wie sorgsam in der Ostzone mit Industriedenkmälern umgegangen wurde. Da wurde Geschichte gelebt und nicht verstellt durch bauliche Notwendigkeiten. Wenn der Herr ein Dach überm Bahnsteig gewollt hätte, wäre da wohl auch eines. Also, watt weg is, det brummt nicht mehr, so pflegte mein Vater zu sagen und wahrscheinlich sagen so was auch andere ältere Menschen gerne. Auch die dekadente Rolltreppe war den Konsumtempeln der HO vorbehalten und somit noch etwas Besonderes. Aufgrund der planwirtschaftlichen Ernährungsstrategien und der verordneten Sportlichkeit in den vielen Organisationen der sozialistischen Kultur waren auch Einbeinige und Rentner noch nicht so verfettet, dass Treppenstufen eine unüberwindbare Hürde für diese hätten darstellen können. Dennoch wurde mit dem Zonexit ein Umbau des in die Jahre gekommenen Rostkreuzes unumgänglich, wollen doch manche noch so gut gemeinten Konzepte partout nicht aufgehen. 2015 im Juli, ich treffe meinen Freund Martin, den Philosophen mit Magister im Übereck in der Sonntagstraße. Er reist von Lichtenberg kommend mit dem Fahrrad an, ich komme standesgemäß mit dem Taxi, aber aus Richtung Treptow. Es staut sich am Koitus von Markgrafendamm und Hauptstraße, also parke ich vor einer der zwielichtigen Schraubergaragen. Es wird fleißig gebaut am Ostkreuz, neue Gleise, alte Bahnsteige weg, neue Bahnsteige her. Regionalbahn, mit Oberleitung, original wie zu des Kaisers Zeiten. Deckel drauf, fertig sind wir. Um den Weg abzukürzen nehme ich die Rolltreppe nach Bahnsteig F und traue meinen Augen nicht. Wo ich einst auf Anschluss wartend über den Sinn meiner Ausbildung bei der Deutschen Reichsbahn im Regen stehend ausharrte, ist die Dominanz des Kapitalismus unübersehbar geworden, lädt das große gelbe M zum massig Müll produzierenden Verfetten für Schmales ein. Eine Einzelfahrt auf verschwitzten S- Bahnpolstern kostet heute in etwa so viel wie ein Jahresabo Holzklasse in der guten alten DDR. Muss wohl auch sein, das Dach, das jetzt eines Domes gleich die reisenden Schäfchen vor Regen schützt, ist wohl ein wenig kostspieliger als die Erhaltungsmaßnahmen der SED-Zeit. Millionen Menschen aus aller Herren Länder strömen in eiliger Hast planlos von Bahnsteig zu Bahnsteig. Wohin des Weges ist egal, wir sind ja in Berlin. Es ist eine Momentaufnahme. Es ist dieser Stadt angepasstes Verhalten. Es wird geschoben und gedrängelt, scheu versuche ich den Hacken tretenden Füßen aller Kontinente auszuweichen, leider ohne Erfolg. Es sind zu viele, "The Walking Dead" hautnah vor Augen ändere ich die Strategie und grätsche fleißig zurück mit quergestellten Schulterblättern. Das ändert nichts an den blauen Flecken, aber so haben die Berlinbesucher auch was davon. Endlich finde ich die Rolltreppe in Richtung Sonntagsstraße, rolle ab, fast zu Fall gebracht von Leuten, die ihr kurzes Verweilen auf Erden mit einem Sprint über die Rolltreppe effektiver nutzen wollen. Im Übereck wartet Martin schon auf mich beim Alsterwasser. Überall lümmeln mit Sternen tätowierte Muttis und Duttis an den Tischen, man spricht englisch, Deutsch ist die Sprache des einfachen Volkes. Von dieser Kulisse gesäumt reden wir in dieser Volkssprache über Kant, Hegel, Marx, Hitler, alte Zeiten, Beethoven und Heavymetal. Einigen Stunden und mehrere Tassen Kaffee später verabschieden Martin und ich uns. Mein Weg zurück führt wieder über Bahnsteig F, über die Rolltreppen. Es ist um diese späte Stunde nicht mehr so voll am Ostkreuz, nur einzeln hasten Reisende vorbei, um die letzte Bahn zu erwischen. So habe ich einige Minuten, schließe die Augen. Ich erinnere mich und sehe volle Bahnsteige mit leidgeprüften Werktätigen, die nach einem anstrengenden Werktag in Eile noch in die Geschäfte stürmen müssen, um von dem Wenigen etwas auf den Abendbrottisch zu bringen. Die Geschäfte schlossen erbarmungslos um 18 Uhr. Ich sehe die Trapo, die Bahnpolizei der DDR, Jagd auf Punks machen, die nach dem Besuch der Erlöserkirche am Nöldnerplatz von hier in ihre Heimatbezirke fahren wollten. Fuck the System steht auf der Jacke eines jungen Irokesen. Ein Jahr Bautzen oder Schwarze Pumpe heißt das für den jungen Mann im Ernstfall. Heute kannst Du laut "Fuck Merkel" schreien, das juckt niemanden, solange du die richtige Fahrkarte hast. Das meint ja schlussendlich niemand wörtlich, wahrscheinlich nicht einmal Professor Sauer.

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