„Jetzt mal im Ernst, Freunde, das ist doch alles kalter Kaffee! Ich reiße mir doch nicht das Futter aus der Jacke, um ein Magazin zu produzieren, das mit seiner biedermeierlichen Harmlosigkeit auch noch den letzten Leser ins Wachkoma versetzt, nur weil sich meine Redakteure nicht von der warmen Ofenbank bequemen, um wenigstens ein Minimum an investigativem Mut, kritischer Brisanz und herzzerreißender Emotionalität zu simulieren. Ist das wirklich zu viel verlangt?“
„Redakteur*innen!“
„Und Freund*innen!“
„Bitte was?“
„Ja, genau, Freund*innen und Redakteur*innen!“
„Übertreibt´s nicht, Kollegen!“
„Bei aller Brisanz und Emotionalität muss es uns immer darum gehen, Haltung zu zeigen!“
„Ganz genau! Und ein Zeichen zu setzen!“
„Was für eine Haltung? Welche Zeichen?“
„Eine moralische Haltung!“Â
„Solidarische Zeichen!“
„Soll ich vor jeder Redaktionskonferenz einen Kniefall machen?“
„Alle Achtung Chef, das wäre ein starkes Zeichen.“
„Und sehr solidarisch.“
„Das lassen wir mal lieber, ich habs im Rücken. Also los, meine Schreiberling*innen, welche Pfeile habt ihr im Köcher?“
„Ich würde gerne was über Mut schreiben.“
„Um Himmelswillen!? Solch rechten Schwurbler*innen dürfen wir keine Plattform bieten! Ich dachte eher an ein diverses Paar aus Schöneweide, das während seiner Hochzeitsreise, von Putins brutalem Angriffskrieg überrascht, auf der Flucht ein Dutzend süßer Hundebabys aus einem Tierheim in Charkiw vor Putins blutigen Bomben rettet.“
„Stark! Da ist alles drin – aktuelle Brisanz, Haltung und Emotionalität.“
„Ja, ok, aber haben wir dafür Belege, Originalton, autentische Bilder?“
„Meine Cousine in Rüdersdorf hat kleine Möpse, also eine Hundezucht, also ich meine, mit den Bildern sehe ich da kein Problem.“
„Bestens, und sonst so?“
„Wir könnten was zum Wahlbetrug in Berlin machen, nach dem Motto, Gut geschätzt ist auch gewonnen.“
„Ich darf doch sehr bitten. Kommt gar nicht in die Tüte oder wollt ihr uns um Kopf und Kragen schreiben?“
„Was haltet ihr von einer Story über Tankheld*innen?“
„Tankhelden? Leute, die sich beim Polen billig ihren Diesel holen?“
„Nein, Chef, im Gegenteil. Tankheld*innen zahlen gerne Höchstpreise an der Zapfsäule, um damit ihren Beitrag für den Frieden zu leisten.“
„Verarschst du mich oder ist auch das ein Zeichen?“
„Natürlich ist das ein Zeichen, sehr solidarisch und mit viel Haltung.“
„Verstehe. Warum schreibt ihr nicht gleich darüber, wie engagiert ihr im nächsten Winter für unsere Freiheit frieren wollt?“
„Das ist gar nicht witzig. Der nächste Weihnachtswellenbrecherlockdown kommt bestimmt.“
„Wie wäre es mit Sondervermögen für Gesundheitswesen?“
„Da können wir gleich Schwere Waffen gegen Pocken vom Affen fordern. Wir sollten da thematisch nichts durcheinander bringen. Apropos, Kolleg*innen – alle geboostert?“
„Na klar, Chef. Doppelt geboostert und dreifach genesen!“
„Dann lasst uns doch lieber was Regionales schreiben und zur Abwechslung wäre auch was Positives gar nicht schlecht.“
„Positiv ist immer gut und mit regional noch besser.“
„Hammer! Megarelevanzthema! Doch irgendwas an der Geschichte scheint mir noch nicht ganz rund. Da sollten wir noch mal genauer recherchieren.“
„Der Lindner meint, wir könnten auch mal wieder ganz unverkrampft über Atomkraftwerke nachdenken.“
„Seit das Team Vorsicht nicht mal mehr Angst vor einem Atomkrieg hat, scheint wieder alles möglich.“
„Was ist denn stattdessen mit dem 9-Euro-Ticket? Fällt euch dazu nicht was Unterhaltsames ein?“
„Das ist eine Erfolgsgeschichte, denn gerade der Berliner Südosten wird dadurch sozial deutlich aufgewertet.“
„Weil nun jeder billig Bahnfahren kann?“
„Ja, und weil sich damit sämtliche Hilfsempfänger sofort nach Sylt abgesetzt haben – hab ich irgendwo gelesen.“
„Was ist mit Kultur? Wir dürfen die Kultur nicht vergessen! Die hat ja in den letzten Jahren besonders gelitten.“
„Wenn Kultur zerstört ist, hat Demokratie keine Stimme mehr.“
„Nicht schon wieder so ein Geschwurbel!“
„Hat Claudia Roth gesagt.“
„Claudia Roth?“
„In Odessa.“
„Ja, in Odessa ist das natürlich absolut richtig.“
„Also irgendwie kommen wir heute nicht so richtig weiter. Gibt es keine Rassekatzenschau in Wilhelmshagen?“
„Habt ihr schon gesehen? Im Mecklenburger Dorf bauen sie nun einen Windhorst Tower.“
„Ich glaub, ich ruf den Melnyk an. Mal sehen, ob er nicht noch irgendwas zu fordern hat.“
„Gute Idee! Aber jetzt ist erst mal Mittagspause. Mahlzeit.“
„Mahlzeit.“