Das Weihnachtssingen ist tot.

Es lebe das Weihnachtssingen!
Auf Schalke tun sie’s, in Magdeburg, in Köln, im Aachener Tivoli – kurz vor Weihnachten wird neuerdings gesungen, in den Stadien der Republik. Im Stadion An der Alten Försterei hat das Weihnachtssingen seinen Ursprung, hier ist es Tradition. Doch was anfangs eine gemütliche Zusammenkunft im Köpenicker Forst war, umsonst und draußen, ist heute ein Event, für das Tickets verkauft werden. Im Fußballkontext gilt Event als Schimpfwort. Die Abfertigung der Massen. Beliebig und ohne Herz. Die Zuschauerzahlen sind dessen ungeachtet von Jahr zu Jahr in einer Weise gestiegen, die den Marketingexperten Freudentränen in die Augen treiben. Wenn die Marketingexperten besonders glücklich sind, sind die Fußballfans nahezu immer besonders unglücklich.
Chritian Arbeit mit roter Trompete
Foto: Stefanie Fiebrig

Den Erfindern ist eine gute Idee entglitten

Die Alt-Unioner, Erfinder des Spektakels, hatten gar nicht vor, die Erfinder eines Spektakels zu werden. Sie sind aber weder die Ersten noch die Einzigen, denen eine gute Idee entglitten und über den Kopf gewachsen ist. Dass sich soviele Leute hinter dieser Idee versammelt haben, dass gar nicht mehr genug Platz für alle an der Mittellinie ist, beweist, dass es eine gute Idee war. Sie stillt das Bedürfnis, beieinander zu stehen, gemeinsam zu singen und Lichter anzuzünden.

Im Grunde wie an jedem Spieltag. Bloß mit mehr singen und weniger Fußball. Nur, dass das Lichteranzünden ausnahmesweise erlaubt ist und keiner zum Glühweinholen auf die Halbzeitpause warten muss. Und so, wie auf anderen Plätzen Fußball gespielt wird, wird nun auch in anderen Stadien gesungen. Schmälern die anderen Fußballspiele das Spiel in meinem Stadion? Das Köpenicker Weihnachtssingen wird nicht schlechter durch die Tatsache, dass es nicht mehr das einzige Weihnachtssingen in einem Stadion ist. Es wird immer das Erste, das Echte, das Älteste, das Originale und deshalb das einzig Wahre seiner Art bleiben. So, wie nur Dresden einen Striezelmarkt hat, wo alle anderen ihre Weihnachtsmarktbuden hinzimmern und Karneval eine rheinische Spezialität bleibt, egal, wie sehr sich Berlin um Lustigkeit bemüht.

 

Das Weihnachtssingen der Unioner feiert in diesem Jahr seinen 15. Geburtstag

Einige meiner Freunde haben Kinder in dem Alter. Für diese Kinder war der Rahmen schon immer groß. Das Lichtermeer, vieltausendstimmiger Gesang. Die wissen gar nicht, was wir Alten meinen, wenn wir sagen: Das Weihnachtssingen ist auch nicht mehr das, was es mal war. Ich erinnere mich vage an Zeiten, in denen wir uns darüber gefreut haben, dass wir wieder ein paar mehr geworden sind. Wir haben es freudig begrüßt, dass das ganze Rund gefüllt ist. Dass wir erstmals die Haupttribüne öffnen. Dass wir auf den Rasen gehen. Wir haben bestaunt, wie das ganze Stadion leuchtet, wie man uns laut durch den Wald singen hört.

Das ist alles immer noch da, und wir auch. Nur sind wir 15 Jahre älter geworden. Altwerden wäre halb so schlimm, wenn sich nicht andauernd alles so rasend schnell verändern würde. Gerne möchte ich meine altersbedingte Veränderungsintoleranz dem Weihnachtssingen anlasten, aber ich glaube, es kann tatsächlich nichts dafür.

 

Es kam das erste Weihnachtssingen, zu dem ich nicht mehr hingegangen bin

Weil es sich anfühlte wie ein Lieblingskleid, das nicht mehr passt. Das spricht nicht gegen das Kleid. Einmal im Jahr nehme ich es aus dem Schrank und betrachte es kritisch. Anziehen geht nicht, aber deshalb gleich aussortieren? Auf gar keinen Fall! Ich bin so alt, ich kenne mich aus mit Revivals. Vielleicht wachse ich nochmal rein. Vielleicht kommt die Feincordschlaghose zurück. Es wäre erst das dritte Mal in meinem Leben. Das mache ich mit dem Weihnachtssingen so ähnlich. Ich betrachte es mit geduldiger Zuneigung. Auf meinem iPad. Beim Weihnachtsessen vorbereiten oder während ich die Geschenke für die Kinder einwickle. Ich wäre unglücklich, wenn ich das nicht tun könnte.

Ich wäre traurig, wenn es kein Weihnachtssingen mehr gäbe. Ich bin gerührt, wie schön das Stadion dabei glitzert und funkelt. Das ganze Weihnachten ist falsch, wenn nicht am Abend des 23. Dezember Christian Arbeit auf seiner roten Trompete „Oh Köpenick, du bist wunderschön“ spielt. Als er im letzten Jahr erwähnte, er hätte sich eine neue, aber kein bißchen rote Trompete gekauft, fing mein Augenlid sofort nervös zu zucken an. Ich bin wirklich empfindlich in Sachen Veränderung. Dass in den letzten Jahren jemand anders dort stand, wo früher mein Platz war, finde ich dagegen überhaupt nicht schlimm. Ich mache gerne Platz. Weihnachten ist für alle da.


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