Nicht auf meine Freundin treten!

Einig in unvernünftiger Planlosigkeit
Mit schweren Rucksäcken, an denen Schuhe baumelten, Schlafsäcken, Zelt, Isomatten und Interrailtickets standen wir am Bahnhof Friedrichstraße. Jule war aufgeregt, schüttelte mich immerzu, klatschte und lachte: „Mensch, wir fahren wirklich los!“

Frau mit Strohhut und Kamera vor einem Wasserfall
Foto: Mohammad Hosein Mohebbi
In Spandau stellten wir fest, dass Zugfahren ziemlich langweilig war. Da wir das Gras nicht rauchen durften, krümelte Jule es in den Pfefferminztee. Die Krümel lagen noch am Grund des Bechers, als er schon leer war. Jule kippte Cola dazu und ich nahm einen Schluck. Dass die Krümel durch die Kohlensäure an die Oberfläche gestiegen sein mussten, wurde mir erst viele Stunden später klar.

In Frankfurt wollte Jule plötzlich aussteigen, um irgendwen zu besuchen, aber leider bestand die Stadt nur aus Tunneln und Gängen. Ich fand den Ausgang nicht. Jule war auch weg. Stunden später trafen wir uns zufällig wieder, vor dem Schaufenster eines unterirdischen Teppichgeschäftes, vor dem ich hängen geblieben war und in die orientalischen Muster starrte, die sich bewegten und Musik machten.

Jule hatte auf der Suche nach mir ihren Schlafsack verloren. Ihr Interrailticket darin aufzubewahren, hatten wir für eine gute Idee gehalten. Wir hatten es einfach nicht gelernt, auf Fahrkarten aufzupassen. Schwarzfahren dagegen konnten wir gut. Zum Glück hatte Jules Frankfurter Freund einen Schlafsack und ihr Vater ein Einsehen. Sie bekam ein neues Ticket.

Paris war laut, schnell, heiß und teuer.

Als wir in Paris aus dem Zug stiegen, hatten wir lange nichts gegessen, nicht geschlafen und die Hitze drückte auf die schweren Rucksäcke. Mitten im strömenden Gedränge fiel ich um. Als ich aufwachte, sah ich Beine und Taschen über mich steigen, um mich herumlaufen, an mir vorbei hasten und dann sah ich Jule, die sich durch die Menschen zu mir kämpfte und die Passanten anbrüllte: „Nicht rauftreten!“

Paris war laut, schnell, heiß und teuer. Wir fanden keine bezahlbare Jugendherberge, dafür am anderen Ende der Stadt ein Zug mit der Aufschrift: „Amsterdam“. Der war leer und kam uns so gütig vor in unserer Erschöpfung. Wir dachten noch, dass es in Amsterdam bestimmt nicht so heiß sein würde, legten uns quer über die Sitze und schliefen ein.

Jule war in Westberlin geboren und hatte die ersten Jahre ihres Lebens auf einem Segelboot vor den warmen Küsten dieser Erde verbracht. Dann hatte ihr Vater ein Haus mit Turm gebaut weil Jule in die Schule musste. Er wollte aber Jule, den Ernst des Lebens schonend beibringen und steckte sie in die Waldorfschule. Die lag direkt an der Mauer. Meine DDR Oberschule auch. Nach der Neunten konnte ich den Mauerstreifen plötzlich überqueren und weil meine Mutter mir den Westen schonend beibringen wollte, steckte sie mich in die Waldorfschule. Ich kam aus einem anderen Land und hatte den kürzesten Weg.

Nach Amsterdam passten wir besser als nach Paris. Wir wussten beim ersten Schritt auf den Bahnhofsvorplatz, dass diese Stadt die richtige Geschwindigkeit hatte für zwei verschonte Waldorfschülerinnen. Ein hagerer Mann kam mit einem Handwagen auf uns zugetrottet, machte ein Peacezeichen nahm unsere Rucksäcke und brachte uns in seine Jugendherberge. Er hatte neben der Herberge noch ein winziges Tattoo-Studio. Jule wollte sofort tätowiert werden. Aber die kleine geringelte Schlange, die ich für sie entworfen hatte, war unbezahlbar. Den Entwurf allerdings nahm uns der Tätowierer für eine Freiübernachtung ab.

Aber wir hatten ja die Tickets und mussten durch die Welt.

Abends saßen wir in einer Bar. Jule hatte sich ausgedacht das Geld für ihr Schlangentattoo mit dem Drehen von Joints zu verdienen. Der Barkeeper gab uns Tabak, Filter, Blättchen, einen klebrigen Klumpen und kostenlose Getränke. Geld bekamen wir keins. Eigentlich brauchten wir auch keins. Wir ließen uns durch die warmen Nächte treiben und wurden eingeladen, wo immer wir hinkamen. Weg wollten wir nicht mehr. Aber wir hatten ja die Tickets und mussten durch die Welt. Am Bahnhof gab es einen Zug nach Oslo und wir waren schon wieder so müde.

In Norwegen stiegen wir aus, wo es uns gefiel, zelteten an einem Fluss, im Wald, übernachteten in einem vorübergehend geklauten Boot und stiegen am nächsten Tag wieder in einen Zug. In einer baumelnden Tüte am Rucksack hatte ich Brot und Wasser, Jule hatte Marmelade, Butter, Käse. Wir verloren abwechselnd unsere Tüten, so dass wir entweder nur Brot oder nur Marmelade hatten. Nie beides.

In Bergen verlor Jule ihre Schuhe in einem Moor. Es hörte nicht auf zu regnen und wir zelteten versehentlich im Stadtpark. In Schweden verirrten wir uns, verloren die Verbindung zum Schienenstrang und mussten trampen. Im Stockholmer Waschcenter steckten wir unsere Lederschuhe in den Wäschetrockner, dass sie ganz steif und verbogen waren. In Göteborg zelteten wir in einem fremden Vorgarten und immer wieder verloren und fanden wir alles Mögliche.

Ich wollte Kinder kriegen. Jule wollte schnell wieder weg.

Die Orte, an denen wir ein- und aus- und umstiegen, mussten wir selbst eintragen in die Seiten der Interrailtickets. Die sahen chaotisch aus im Gegensatz zu denen der anderen Interrailer, die wir trafen. Sie hatten einen Plan und erklärten uns stolz ihre Routen. Jule und ich waren planlos und daher nicht sehr weit gekommen. Wir hatten eigentlich in den Süden fahren wollen und waren nur im Norden herum gekurvt weil es uns schon in Paris zu heiß war. Für den Süden hätten wir noch soviel Zeit, dachten wir, aber dann waren vier Wochen um und die Tickets nur halbvoll.

Zuhause stellten wir fest, dass die Reise, auf der wir uns immer so einig gewesen waren, uns in entgegen gesetzte Richtungen geschubst hatte. Ich wollte Kinder kriegen. Jule wollte schnell wieder weg. Nur viel weiter und viel länger. In ihrem ersten Brief aus Australien stand, dass sie schon im Flugzeug ihren Job-Guide verloren hatte, in dem die Adressen standen, die sie abklappern wollte, um dort zu arbeiten. Irgendwie hatte sie eine reife Tomatenplantage gefunden. Nachdem die Tomaten abgeerntet waren, verlor sie aber das Geld und die Travellerschecks. Jule schlug sich durch, in irgendeiner Großstadt, schlief auf Parkbänken und aß, was sie fand, bis neues Geld von ihrem Vater kam.

Jule hatte ein Mädchen kennen gelernt.

Der Brief aus Neuseeland sah besser aus. Jule hatte ein Mädchen kennen gelernt, mit der sie im Wald an einem Wasserfall zeltete. Da sie dort wochenlang niemandem begegneten, hörten sie auf, sich anzuziehen. Eines Tages kam Musik von irgendwoher. Da gingen sie los. Als sie am Abend aber nicht herausgefunden hatten, woher die Musik kam, sich verlaufen hatten, immer noch nackt waren und auch ihr Zelt nicht wiederfanden, waren sie in einer typischen Jule-Situation. Im nächsten Brief stand, dass sie jetzt lesbisch war, Schauspielerin werden wolle und zurückkäme.

Während ich abends die Wohnung nicht mehr verlassen konnte, weil ich schlafende Kinder zuhause hatte, arbeitete Jule nachts in Bars oder spielte im Theater. Nach fünf Jahren stand sie lachend vor meiner Tür, mit einer matschigen Hose: „Da war so ne Baustelle und ich wusste nicht, wo man langgehen sollte. Plötzlich stand ich im flüssigen Beton.“ Rücken an Rücken, verhakten wir unsere Arme, ich trug sie in die Badewanne und duschte ihre betonierte Hose ab. Dann lagen wir auf meinem Sofa, redeten von früher und ich kam mir so vernünftig vor. „Vernünftig?“ sagte sie. Kinderkriegen sei ja wohl das unvernünftigste was man sich vorstellen könne. Da hatte sie vollkommen recht und wir waren uns wieder einig in unserer unvernünftigen Planlosigkeit, wie damals in den Zügen nach irgendwo.


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