Lehren für die Pandemiebekämpfung

Teil III - Seuchenschutz und Impfen in der DDR
Erstveröffentlichung am 16.03.2021
Am 8. April 1874 trat das „Reichs-Impfgesetz“ in Kraft. Und noch fast 100 Jahre später, bis in die 1960er Jahre hinein, fand es Anwendung in der damaligen DDR. Auch eine Vielzahl von Verordnungen der Sowjetischen Militäradministration Deutschlands (SMAD), die in den Jahren nach 1945 getroffen wurden und in denen Fragen der Bekämpfung von Epidemien geregelt waren, blieben gültig.
Mit dem „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen“ vom 20. Dezember 1965 trat eine einheitliche Regelung zum Schutz vor Epidemien in der DDR in Kraft. Hierin wurden unter anderem die Erfahrungen mit dem Ausbruch der vermutlich aus China stammenden „Asiatischen Grippe“ in den Jahren 1957–1958 verarbeitet, an der weltweit etwa 2 Millionen Menschen starben. Im Februar 1957 waren erste Krankheitsfälle in Yunnan dokumentiert worden. Im Mai 1957 erreichte der Influenzavirus A/Singapore/1/57 (H2N2) auf dem Land- und auf dem Seeweg Europa. Während in der bundesdeutschen Öffentlichkeit im Juli 1957 spekuliert wurde, ob und wie diese „Asiatische Grippe“ in der Bundesrepublik angekommen sei, wurde im Juni 1957 in der DDR der erste influenzabedingte Todesfall registriert. Und das SED-Zentralorgan, das „Neues Deutschland“, berichtete, dass es US-amerikanische Soldaten gewesen sein, die das Virus über den Seeweg in die Bundesrepublik „eingeschleppt“ hätten. Ein Jahrzehnt später nahm – vermutlich auch in China – die „Hongkong-Grippe“ ihren Ausgang, wobei sich das Influenzavirus A/H3N2 von dort über Hongkong weltweit ausbreitete. Erste Berichte über diese Grippe in Europa können in den Sommer 1968 datiert werden. Ende des Jahres dann hatte die „Hongkong-Grippe“ auch die DDR erreicht.   

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  Informationsfilme zur Hygieneerziehung liefen in den meisten Kinos der DDR und wurden im Abendprogramm des staatlichen Fernsehfunks gesendet. Im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden befinden noch heute die Filme, mit denen für die Schutzimpfung geworben wurde. Die staatlichen Aufklärungskampagnen zeigten indes Wirkung – und allein im vierten Quartal 1970 wurden nach Angaben des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR 889.832 Erwachsene und 1.032.145 Kindern gegen die Grippe geimpft. Die Dysenterie – landläufig bekannter als: die Ruhr – ist eine hoch ansteckende bakterielle Darmerkrankung, die sich im nahen Umfeld der infizierten Personen schnell ausbreitet und einen tödlichen Verlauf nehmen kann. Beschrieben wurde die Ruhr bereits von Schülern des Hippokrates, und die Armee des Xerxes, mit der er Griechenland und Thessalien eroberte, soll unter Dysenterie gelitten haben. Im Mittelalter galt die Ruhr als Seefahrerkrankheit; ihre Ausbreitung in Europa führte zur Teilentvölkerung ganzer Landstriche. In der Gegenwart gehen Epidemiologen von rund 165 Millionen weltweiten Erkrankungen aus, wobei mit etwa 1,1 Millionen Todesfällen zu rechnen ist.
Reihenuntersuchungen und Pflichtimpfungen in einer Kinderkrippe
Reihenuntersuchungen und Pflichtimpfungen in einer Kinderkrippe /// Foto: Maulbär-Archiv
Im Frühjahr 1962 hatte sich in der gesamten DDR eine Ruhr-Epidemie ausgebreitet. Die ersten fieberhaften Darmerkrankungen traten im März in Ost-Berlin auf. Ende des Monats war von einem explosiven Ausbruch der Epidemie die Rede. Im Mai 1962 wurden zwei Kommissionen beim Ministerium für Gesundheitswesen beschlossen: die „Kommission zur Erforschung der Ursachen der Ruhr-Epidemie“ und die „Zentrale Kommission zur Bekämpfung und Beseitigung der Ruhr- Epidemie“. Erstaunlicherweise blieb das Ausbruchsgeschehen zunächst auf Ost-Berlin konzentriert. An einer Oberschule in Treptow erkrankten 300 Schüler, und im Mai 1962 waren in Ost-Berlin insgesamt 48.296 Erkrankte gemeldet worden, in der gesamten DDR bis dahin 73.569 Erkrankungen erfasst. Auch Tote waren zu beklagen. In Ost-Berlin reichte die Kapazität der Krankenhäuser nicht mehr aus, es wurden Hilfskrankenhäuser eingerichtet, Zehntausende DDR-Bürger in Notkrankenhäusern in Quarantäne eingewiesen. Schwimmbäder wurden geschlossen, Besuchsverbote für Krankenhäuser mit Ruhrpatienten erlassen und alle größeren Veranstaltungen in betroffenen Gebieten abgesagt. Außerdem wurde der innerstaatliche Reiseverkehr eingeschränkt und für Ost-Berlin eine teilweise Ein- und Ausreisesperre verhängt. Vor Ämtern und öffentlichen Einrichtung standen Schüsseln mit Desinfektionslösung. Die staatliche Reaktion war prompt erfolgt und das „Neue Deutschland“ konnte bereits Ende April berichten: „Das sächsische Serumwerk Dresden ist einer der drei Betriebe, die vom Ministerium für Gesundheitswesen der DDR mit der Ruhrbakteriophagenerzeugung beauftragt wurden. Der Dresdner Betrieb hat innerhalb weniger Tage die notwendigen Einrichtungen geschaffen und mit der Produktion begonnen. Täglich werden jetzt im Serumwerk 400 Liter des Präparats fertiggestellt. Staatliche Organe und Betriebe hatten Sofortmaßnahmen ergriffen, um die Produktion des Präparats ohne Verzögerung in Gang zu bringen.“ Auf der Titelseite des „ND“ ermahnte Medizinalrat Dr. Hoeck zur Vorsicht und zum gesteigerten Gebrauch von Wasser und Seife. Eine Aufklärungskampagne zu Fragen der Hygiene wurde initiiert. In der Presse erschienen zahlreiche Zeitungsartikel zum „ABC der Hygiene“ oder zur „Hygiene als erste Bürgerpflicht“. Besonders gefährdete Personenkreise wurden prophylaktisch mit Bakteriophagen behandelt: Kinder ab dem sechsten Lebensmonat in Kindereinrichtungen und Schulen, Lehrer, Erzieher, Beschäftigte der Lebensmittelbetriebe, des Lebensmittelhandels, der Wäschereien, der Verkehrsbetriebe sowie Friseurinnen und Postzusteller. Als Quelle der Infektion waren Ruhrbakterien in Speisebutter ausgemacht worden, die in Berlin verkauft worden war. Dabei handelte es sich ausgerechnet um aus der Sowjetunion importierte Butter, wie das Ministerium feststellte – und streng geheim hielt. Politisch brisant und noch viel mehr zum Politikum entwickelte sich zwei Jahrzehnte danach dem Umgang mit der Ausbreitung von AIDS: Das HI-Virus galt in der DDR anfangs offiziell als eine „West-Krankheit“, wurde als ein soziales Problem des Westens dargestellt. Doch 1986 registrierte das Ministerium für Gesundheitswesen den ersten HIV-positiven DDR-Bürger: Ein Tänzer aus Leipzig hatte sich bei ausländischen Gästen infiziert. Der Ost-Berliner Biologieprofessor Jakob Segal stellte die These auf, der AIDS-Erreger habe keine natürlichen Vorfahren, sondern es sei ein künstliches Virus von Geningenieuren der US-Army in Fort Detrick aus dem Erbmaterial anderer Viren zusammengebaut und anschließend an Gefangenen getestet worden. Nach deren Freilassung hätten diese es in die New Yorker Schwulenszene eingebracht, von wo aus sich das Virus zunächst über die USA und dann über die ganze Welt verbreitet habe. Diese fragwürdige, nicht belegte Theorie fand in der Fachwelt auch in der DDR keinen Widerhall.

Lehren für Pandemiebekämpfung und Impfungen

Der DDR ist es gelungen, innerhalb weniger Jahre Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten zurückzudrängen bzw. praktisch auszurotten. Dies verdient nicht nur Hochachtung, sondern wirft auch die Frage nach der Strategie auf, denn die wirtschaftlichen Möglichkeiten waren nicht günstig.
„Eine Infektionskrankheit bekämpft man vernünftiger Weise nach den Regeln der wissenschaftlichen Seuchenlehre“
stellte einst der ehemalige Chef der Hautklinik der Berliner Charité, Professor Niels Sönnichsen mit Blick auf die AIDS-Bekämpfung fest. Tatsächlich bestimmte dieser Grundsatz in der DDR alle Konzeptionen, Strukturen und rechtlichen Regelungen für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten, Epidemien und Pandemien: Politischen Entscheidungen und Maßnahmen sollten sich konsequent nach gesicherten medizinischen Erkenntnissen und Erfordernissen richten. Sie wurden maßgeblich von Medizinern und Seuchenexperten ausgearbeitet und den Regierungsgremien zur Entscheidung vorgelegt. Stets waren Ärzte verschiedener Fachgebiete einbezogen, aber auch andere Berufe und gesellschaftliche Bereiche. Das medizinisch Notwendige abgestimmt richtig zu tun, war das Credo. Das galt auch und besonders bei Schwierigkeiten, die von der zu schaffenden Einsicht bei Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft bis hin zum Kampf um fehlende Kapazitäten, Medikamente oder medizinischen Geräte reichte.
Prophylaktische kinderärztliche Betreuung in einer Tageskrippe
Prophylaktische kinderärztliche Betreuung in einer Tageskrippe /// Foto: Maulbär-Archiv
All das floss nicht nur in die Gesetzgebung über den Seuchenschutz in der DDR ein, sondern führte immer wieder zu praktischen Anpassungen nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch in anderen relevanten Bereichen. Die Bundeszentrale für politische Bildung stellt im November 2020 fest, „dass die rechtlichen Rahmenbedingungen in der DDR ein zentrales Instrument zur Bekämpfung von Epidemien darstellten. Sie gewährleisteten die ungehinderte Überwachung von Epidemien durch umfangreiche Melde- und Behandlungspflichten. (…) Diese Pflichten wurden ergänzt mit einer Behandlungspflicht und zahlreichen Abwehrmaßnahmen, unter anderem Krankenhauseinweisungen, Absonderungen oder Gesundheitskontrollen. Zudem konnten zeitlich begrenzte Tätigkeits-, Ausbildungs-, Verkehrs- und Verhaltensbeschränkungen auferlegt werden. Die Melde- und Behandlungspflichten, ergänzt um die Abwehrmaßnahmen, bildeten in der Praxis die Grundlage bei der Bekämpfung von Epidemien …“ Die Erfahrung lehrt: Auch wenn eine Impfung zur Verfügung steht, auch wenn man die Krankheit behandeln kann: Einige Grundregeln sollte man dennoch im Blick behalten: Infektionsquellen erkennen, Infektionsketten schnell und möglichst vollständig nachverfolgen, Infizierte isolieren, Erkrankte behandeln und nachversorgen, sich (auch mittels Testung) einen Überblick über die Verbreitung und Auswirkung in der Bevölkerung, in ihren einzelnen Gruppen und Territorien verschaffen. Und die Regierenden sind gut beraten, sich bei einer Seuche mit Kompetenz und mit Mandat beraten zu lassen – von verantwortlichen Medizinern aller zuständigen Fachrichtungen.

Noch ein Wort zum Impfen

Von den 20 wichtigsten Seuchen in der Welt sind bisher neun mit Impfungen effektiv bekämpfbar: Pocken, Tuberkulose, Cholera, Typhus, Gelbfieber, Polio, Grippe und die sogenannten Kinderkrankheiten Diphterie und Masern. Die Covid-19-Krankheit kommt nun hinzu. Inzwischen wurden in Deutschland einige Impfungen eingestellt, so gegen Tuberkulose oder Pocken, andere Impfungen wurden verändert, wie die Polioimpfung, die nun nicht mehr als Schluckimpfung, sondern als Injektion verabreicht wird. Außerdem sind Impfungen gegen weitere Krankheiten möglich geworden. In der DDR und der BRD war nach 1945 das Impfen rechtlich und praktisch unterschiedlich gehandhabt worden. In der Bundesrepublik wurden lediglich Impfempfehlungen der STIKO ohne rechtliche Verbindlichkeit für den Bürger ausgesprochen, die jedoch Ärzte durchzuführen hatten und bezahlt wurden. In der DDR gab es seit Beginn der 1950er Jahre auch Pflichtimpfungen. Die im Übrigen mit vielen medizinischen und anderen gesetzlichen Ausnahmeregelungen versehene Impfpflicht wurde jedoch nicht nur als eine Pflicht für den Bürger verstanden, sondern mindestens im gleichen Maße als Pflicht und Aufgabe des Staates, die Erfüllung dieser Pflicht auch sorgfältig, umfassend und leicht zu ermöglichen. Umgesetzt wurde dies nicht mit vordergründiger Zwangsandrohung oder Bußgeldern, die praktisch nie erhoben wurden, sondern mit einem auf das Kind und die Eltern hin gerichteten System der medizinischen Beratung und Betreuung. Das Impfen war in der DDR eingebettet in die regelmäßigen Reihenuntersuchungen von der Geburt bis ins Erwachsenenalter sowie in die medizinische Betreuung der Kinder in den Krippen, Kindergärten, Schulen und Ferienlagern bis hin zur Lehrausbildung oder zum Studium. Die Kontrolle und möglichst vollständige Erreichung des erforderlichen Durchimpfungsgrades gehörte zu den beruflichen und gesetzlichen Pflichten im Gesundheitsbereich, besonders der Kreisärzte und jeweiligen Gesundheitsverwaltungen. Trotz zeitweiliger Schwierigkeiten bei der Herstellung oder auch dem Import von Impfstoffen - so waren international neue Mehrfachimpfungen entwickelt worden - wurde in der DDR bis 1989 der Impfschutz der Kinder auf dem auch international geforderten medizinischen Niveau gewährleistet. Dennoch führte der offensichtliche Erfolg bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten, deren Folgen viele noch aus der eigenen Familie kannten, zu einem großen Vertrauen in der Bevölkerung, dass bis heute in einer besseren Impfbereitschaft in Ostdeutschland nachwirkt. Daher sollte anstelle der aktuellen Debatten über eine gesetzliche Impfpflicht lieber versucht werden, die Menschen von der Sinnhaftigkeit von Impfungen zu überzeugen und es ihnen durch eine gute Organisation bis hin zur Kostenlosigkeit so einfach wie möglich zu machen, um damit den medizinisch-epidemiologisch wünschenswerten Durchimpfungsgrad zu erreichen. Im Interesse jedes einzelnen Kindes, im Interesse aller Kinder, im Interesse der Gesundheit aller.
Titel des Historikmagazins „Die Mark Brandenburg“ Dr. Heinrich Niemann wurde am 12. Oktober 1944 in Reckwitz/Sachsen geboren. Nach dem Abitur absolvierte er eine Lehre als Motorenbauer bei ROBUR in Zittau. Es folgte ein Medizinstudium an der Charité Berlin. Er promovierte über die internationalen Tendenzen der Medizinischen Hochschulbildung und wurde Facharzt für Sozialhygiene. Elf Jahre war er im Ost-Berliner Gesundheitswesen als Facharzt tätig. Auf politischer Ebene vertrat Heinrich Niemann in den 1980er Jahren die DDR-Sektion der Internationalen Ärzteorganisation gegen den Nuklearkrieg, IPPNW. Mehr zum Thema Seuchen gibt es in der neuen Ausgabe der Mark Brandenburg. Den zweiten Teil der Serie „Seuchenschutz und Impfen in der DDR“ gibt es hier.

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