Ich wusste, dass Gudrun Rentnerin ist und nähen kann. Aus meterweise weißem Stoff sollten Fahnen zum Bemalen werden. Zuschneiden, säumen, Tunnel nähen. Das macht Gudrun, hieß es. Die kann das. Ich stellte mir eine Häkel-Oma vor. Und dann habe ich Gudrun getroffen.
Gudrun besieht sich die Sitzmöbel im Café, probiert die Couch, findet sie zu tief und entscheidet sich dann für einen schönen, sachlichen Stuhl. Sie packt einen Ordner aus und legt ihn neben sich. Gudrun kann tausend Dinge und findet das so selbstverständlich, dass es ihr nicht erwähnenswert vorkommt. Etwa, dass sie als Fünfzehnjährige auf einem Seil balanciert ist, in drei Metern Höhe, mit Fächer. Sie hatte eigentlich nur den Artisten zusehen wollen. „Mach doch mit“, sagte der Trainer der Truppe. „Ick hab viel zu dicke Beene“, fand Gudrun. „Da ist Kraft drin, die brauchen wir.“ Sie hat probiert und blieb dabei, anderthalb Jahre lang. „Es ist nicht so einfach, da Gleichgewicht zu halten.“ Die Artistenschule zog um, der Weg wurde zu weit. Die Mutter verbot ihr hinzugehen. Gudrun fand etwas anderes für sich. Wandern, Blockflöte spielen, Klavierunterricht, Singen im Berliner Rundfunk Kinderchor, Rudern. Es waren Freiräume, die sie sich geschaffen hat.
Gudruns Eltern ließen sich scheiden, da war sie elf. Als ältestes von drei Kindern kümmerte sie sich um die jüngeren Geschwister. Die Mutter ging an sechs Tagen in der Woche arbeiten. „Damit war die sogenannte Kindheit vorbei. Ich hatte nur noch Pflichten. Deshalb bin ich so ein ernster Mensch geworden.“ Sie machte eine kaufmännische Ausbildung, wurde Tankwartfacharbeiterin, später hat sie zeitweise eine Tankstelle geleitet. „Autos waren meine Welt, Motorsport sowieso.“ Aber sie war nie im Sportverein, nie in einer Clique und auch im Berufsleben immer Einzelgängerin. Wandern geht sie ganz allein, sagt sie. Oder den Neujahrslauf am Brandenburger Tor. Allein - zusammen mit tausend anderen.
Und dann eben Fußball. „Mein Vater, solange er da war, war sehr fußballinteressiert. Der hing nur am Radio und hat Fußball gehört. Ich fand das toll. Diese Begeisterung, die da rüberkam! Davon ist etwas hängen geblieben bei mir.“ Trotzdem dauerte es lange, bis sie das erste Mal ins Stadion ging. „Ich hatte auch nie einen passenden Partner, der mich da hätte hinbringen können.“ Die Karten gewann sie bei einem Preisausschreiben. Union gegen Bielefeld. Sie erinnert sich an das Datum, sie weiß noch das Spielergebnis.
So richtig ernst wurde das mit Gudrun und Union während des Stadionsbaus. Da war sie schon Rentnerin. Das ist nicht meins, dachte sie zuerst. Ich bin zu alt. Ich kann da nicht helfen. Aber im Aufruf hieß es: Wir brauchen jeden. „Jeder bin ich auch.“ Sie hat angerufen. „Ich bin alt und schwach, aber ich möchte was tun!“ „Kommste morgen um sieben“, sagte ihr die Bauleiterin. Von dem Tag an hat Gudrun täglich acht Stunden auf der Baustelle verbracht. Stullen schmieren, Essensausgabe, abwaschen, Treppe rauf, Treppe runter. „Einfach im Stadion sein“, sagt sie.
„Ich bin so glücklich auf diesem Gelände!“Als das Stadion fertig war, half Gudrun bei der Stadion- AG aus. Sie hat Aktien verkauft, sie hat Bürojobs erledigt. Neuerdings steht sie am Grill. Sie hat Süßigkeiten verteilt, im Osterhasenkostüm, und im WM-Wohnzimmer 120 Kilo Erdbeeren für die Bowle geschnippelt. Wenn so etwas anliegt, muss ihr Mann zurückstehen. Der ist Musiker und viel unterwegs. „Ich kann doch nicht zuhause warten, bis er zurückkommt, und versauern. Da muss ich mir doch auch was suchen.“ Er versteht das und geht mit zum Weihnachtssingen, schenkt ihr die Reise auswärts nach Stockholm, obwohl er mit Fußball nichts anfangen kann. Soviel wie heute, sagt Gudrun, hat sie schon lange nicht mehr geredet. Schon gar nicht über sich selbst. Wir blättern durch die Fotos in ihrem Ordner. Gudrun beim Drachenbootrennen und mit Union-Schal in der Allianz-Arena. Gudrun mit John-Jairo Mosquera. Mit Tusche. Mit Andora. Und ihr Stein im Tunnel unter der Anzeigetafel: Für ihren Mann. „Weil der mich so unterstützt, habe ich ihm den Stein gewidmet.“