Opferrollen Teil 2

Doch lieber Schlachtopfer als Henker sein
Die Mädchen hatten keine Chance. Der große Mann packte zu mit roher Gewalt, überraschend, aus dem Hinterhalt. Acht bis zwölf Jahre alt waren die vier Kinder. In seine Geburtsstadt war Frank Schmökel zurückgekehrt, nach Strausberg. Anfang der neunziger Jahre belästigte er drei Mädchen und vergewaltigte eines. Das Urteil: fünfeinhalb Jahre. Die Gutachter im Prozess stellten eine krankhafte Störung seines Charakters fest. So kam Schmökel nicht in den Knast, sondern in eine Klinik mit Gittern; Paragraf 63 Strafgesetzbuch, Unterbringung in der Psychiatrie, Maßregelvollzug.
In Quitzerow ist es, wie man sich Mecklenburg denkt: Weites Land, flaches Land, das fast an den tief hängenden Himmel stößt, die Dorfstraße in der Dämmerung liegt verlassen, auf den stillen Höfen hocken alte Frauen und Männer auf ihren Bänken, das alte Gutshaus verfällt unter alten Bäumen – viel Gegend wie gottverlassen. Gottverlassen in ihrer Angst gefühlt haben muss sich Christine. April 1994.Nur fünf Monate nach seiner Verurteilung Ende des Jahres 1993 hat Frank Schmökel  Ausgang erhalten. Er stiehlt das Auto seiner Pflegerin, ihm gelingt die Flucht. Es zieht ihn in eine Gegend, die er kennt, er fährt in Richtung Demmin, dorthin, wo er einst in der volkseigenen LPG zum Teilfacharbeiter für Rinderzucht gemacht wurde. Den freiheitlich-demokratischen Versuch zu heilen und die draußen zu schützen, führt Schmökel nun ad absurdum. „Ich bin dann so hin und her, auf der Suche nach einem Opfer. Da hab ich dann die Christine gesehen, wie die von der Schule nach Hause gefahren ist. Da habe ich sie abgepasst, in mein Auto gezogen und bin mit ihr in den Wald gefahren.“ Er fesselt das Mädchen. Das Mädchen fleht ihn in seiner Angst an, sagt ihm: „Ich möchte nach Hause. Meine Mutti wird sich schon Sorgen machen“ und „mein Papa, der hat mich so lieb.“ Damit sind Schmökels eigene Wunden geöffnet. Das ist für Schmökel zu viel. „Da habe ich die von einem Moment auf den anderen abgrundtief gehasst. Die hatte ein schönes Zuhause, ich hatte keines. Die hatte alles das, was ich nie hatte. Und dann habe ich versucht, sie zu erwürgen.“ Schmökel, nun völlig von Sinnen: „Da bin ich rauf wie ein Tier.“ Er würgt die 11 Jährige. „Irgendwann lag die so leblos da, die Augen waren zu, ich dachte, die war tot.“ Das Kind überlebt. Schmökel aber hat eine Grenze überschritten. Das Quälen ist nun Lust. „Es ist zu einem Fortschreiten der sexuellen Fehlentwicklung gekommen“, diagnostizieren die Gutachter. „Es ist bei Gewalttätern, die von sadistischen  Phantasien getragen sind, das Übliche, dass die Täter nicht schon in jungen Jahren das in ganzem Umfang ausleben. Es entwickelt sich im Laufe eines längeren Lebens immer weiter.“ Eine Woche nach der Tat im Wald bei Quitzerow wird Schmökel gefasst. Ein „Triebstau“", sagen die Psychologen, sei für seine Flucht verantwortlich gewesen. „Schmökel ist ein Mensch“, urteilt der Polizeipsychologe Gallwitz, „der von Phantasien strotzt“ und dem „das Gegenüber vollkommen egal ist“. Ein Wissen, das nicht hindert, Schmökel wieder entweichen zu lassen. Frank Schmökel flieht allein in den folgenden drei Jahren noch dreimal aus der Brandenburger Klinik. Nach jedem Ausbruch versucht er zu seinem früheren Opfer Christine zu kommen. Beim seinem Ausbruch 1996 wird Schmökel nicht weit von Quitzerow bei einer Verkehrskontrolle aufgegriffen. Bei seiner nächsten Flucht hinterlässt er in der Zelle einen Zettel mit der Nachricht:
„Es tut mir Leid, die Kleine geht mir nicht aus Kopf.“
Nach seinem erneuten Entweichen schaffte es der mittlerweile zu 14 Jahren Haft und Maßregelvollzug Verurteilte, wieder bis nach Quitzerow zu gelangen. Dort wird er im Keller eines Hauses, kaum fünfhundert Meter von der Wohnung seines Opfers entfernt, verhaftet. „Ich hatte mittlerweile sieben Psychologen und jeder versucht mich in eine andere Richtung zu therapieren“, erzählte Schmökel, „und ich bin einfach nicht weitergekommen, im Gegenteil: es ist immer schlimmer geworden… Im Ausgang sah ich mir nur noch die Pos von Kindern an und dachte nur daran, sie zu verprügeln, nicht an Sex.“ Seinem Anwalt vertraut Schmökel an, dass sich seine Triebe vor allem auf dieses Mädchen, auf Christine beziehen. Er könne diese Fantasien nicht abstellen. „Er hat volle Einsicht in das Unrecht seines Tuns, aber er kann die Triebe, die sein ganzes Leben steuern, nur bedingt beeinflussen“, erkennt der Jurist. Schmökel ist „praktisch nicht therapierbar … denn Schmökel hat wenige Skrupel und ist grundsätzlich gewaltbereit“. Und die Justiz weiß: „Eine Heilung der Triebanomalie des Angeklagten[sei] nicht zu erwarten.“ Der Fall Schmökel ist zum Alptraum der Behörden geworden – und ein lebendiger Horror seinen Opfern. Gemeinsam mit anderen Häftlingen sägt Schmökel ein Fenstergitter im Maßregelvollzug in Brandenburg auf und entkommt der Anstalt. Er stellt sich nach einer Woche und wird nach Neuruppin verlegt. Nach einem halben Jahr in Neuruppin gelingt ihm auch dort die Flucht. Am folgenden Tag wird er gestellt. Und er kündigt an:
„Bei meiner nächsten Flucht werde ich mehr Aufruhr verursachen. Ich werde eine Bestie sein ohne Gnade. Am besten wäre es, Vater und Mutter zu töten … Auch Pfleger und Sozialarbeiter umbringen.“
Im April des Jahres 2000 erhält Frank Schmökel die „Lockerungsstufe 4“. 70 Mal geht er in Begleitung von Pflegern Einkaufen oder zum Sport. Dann, am 25. Oktober, wird Schmökel von drei Pflegern nach Strausberg zum Besuch seiner Mutter gebracht. Im Wohnzimmer wird Kaffee getrunken und Kuchen serviert..Zum Rauchen gehen zwei Pfleger vor das Haus. Manfred S. bleibt in der Wohnung. Später wird er sich erinnern: „Er war wie im Blutrausch.“ Mit einem Küchenmesser sticht Schmökel mindestens sieben Mal auf Manfred S. und auf die eigene Mutter ein. Schmökel, als er seinen blutverschmierten Pullover sieht: „Ich dachte: ach Du Scheiße, was hast Du denn nun wieder gemacht? Ich wollte doch eine Flucht ohne Gewalt. Oh Gott, ich laufe an Häusern vorbei, über Straßen, in denen ich mich nicht auskenne. Überall Sirenen.“ Eine erste Zuflucht findet der Flüchtige in der Strausberger Laubenkolonie Postbruch. Hier haben die meisten Laubenpieper bereits winterfest gemacht. Es ist ruhig. Schmökel öffnete eine Laube, richtet sich provisorisch ein, sinniert: „Ich will doch kein Massenmörder sein. Kann auch arbeiten, Liebe machen, Kinder erziehen – aber ohne Prügel und Gewalt.“ Wenig später bemerkt er Bewegung auf dem Nachbargrundstück. Er greift nach einem Spaten. Hinterm Gartenzaun macht sich der 61-jährige Rentner Johannes B. an die letzten Gartenarbeiten des Jahres – und seines Lebens. „Ich habe den dann mit dem Spaten traktiert. Fünf, sechs Schläge, oder so. Dass es so unendlich leicht ist, einen Menschen zu töten … Das ist so unendlich leicht, da gehört nicht viel zu.“ Frank Schmökel „wurde am 11. Dezember 2002 vom Landgericht Frankfurt (Oder) wegen der bei seiner Flucht begangenen Kapitalverbrechen zu lebenslanger Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt; zusätzlich wurde gegen den bei Begehung dieser Taten uneingeschränkt schuldfähigen Angeklagten die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dieses Urteil ist jetzt rechtskräftig: Der 5. (Leipziger) Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des Angeklagten durch einstimmig gefassten Beschluss als offensichtlich unbegründet verworfen“, heißt es in einer Mitteilung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 2003. Das Ende der causa Schmökel? Mitnichten: Vier Jahre später beschäftigt Frank Schmökel wieder bundesdeutsche Gerichte. Dabei wird sein Antrag auf die SED-Opferrente verhandelt. Zunächst von der zuständigen Behörde in Mecklenburg-Vorpommern abgelehnt, klagte Schmökel dagegen und bekommt vom Neubrandenburger Landgericht seinen Einspruch für rechtens erklärt. Das Schweriner Justizministerium bestätigte damals einen Bericht der „Bild“-Zeitung, wonach der Schmökel „eine Haft-Entschädigung von rund 3000 Euro als SED-Opfer kassiert hat und mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern noch um eine monatliche Rente von 250 Euro streitet. Der Polizistensohn und gelernte Rinderzüchter hatte 1981/1982 wegen versuchter Republikflucht zehn Monate im Gefängnis Neubrandenburg gesessen, erklärt Monika-Maria Kunisch, Sprecherin des Justizministeriums. 'Dafür ist er vom Landgericht Neubrandenburg rehabilitiert worden.'“ Das Oberlandesgericht Rostock stoppte dann irgendwann den Veitstanz – allerdings nur mit der Begründung, dass er, der Frank Schmökel, nicht bedürftig sei, weil er in der Haft immerhin mit allem Lebensnotwendigen versorgt werde. Seine Bedürftigkeit nach Lebensnotwendigem weiß der Frank Schmökel bis heute wohl versorgt. Der Insasse im Maßregelvollzug Brandenburg/Havel unterliegt inzwischen einer Sicherheitsstufe, die es eigentlich gar nicht gibt. „Der Herr hat einen eigenen Flur“, sagt ein Klinikmitarbeiter. Überwachungsmonitore und drei Beamte bewachen Schmökel rund um die Uhr: Viermal Zimmerkontrolle pro Stunde, nachts einmal pro Stunde. „Wir würden lieber mit den anderen Therapie machen. Aber ein Sonderpatient wie Herr Schmökel bindet Personal.“ Und Frank Schmökel kann sich nicht nur der Aufmerksamkeit seiner Bewacher mittlerweile sicher sein. Auch Angelika, Monika und Sabrina – sie haben großes Interesse an Frank gefunden. Sie schreiben ihm Briefe und kommen ihn besuchen. Eine 24-jährige „Krankenschwester aus Wuppertal mit der Figur einer 15-Jährigen“ ist die neue Favoritin. „Auch sie hatte ihm geschrieben, sich sogar 'Frank' umrahmt von einem pinken Herz in den Oberarm tätowieren lassen“. Im Boulevard ist weiter zu lesen: „Sofern das Besuchsrecht von Patienten nicht eingeschränkt ist, ist Sex durchaus möglich. Ob das bei Schmökel der Fall ist, möchte der Chefarzt aber nicht ausplaudern.“ Frank Schmökel sieht sich unverstanden, „weil eben vieles verzerrt wird und anders hingestellt wird, als es in Wirklichkeit gewesen ist. Manchmal sehnt man sich auch als erwachsener … Sohn nach seiner Mutter, die einen einfach in den Arm nimmt oder so. Glasharte Killer – auch die sehnen sich danach. Ich sehne mich auch danach. Und ich sehne mich wirklich danach. Und ich weiß genau, wenn mein Vater kommen würde zu Besuch und würde mich in den Arm nehmen, ich würde losheulen wie ein Schlosshund. Und bei meiner Mutter würde es mir heute auch so gehen.“ Am Ende scheint es so zu bleiben, ist es der Seele doch leichter, Schlachtopfer als Henker sein.

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