Landschaft herber Gesichter

Die Ausstellung „Roger Melis: Die Ostdeutschen – Fotografien aus drei Jahrzehnten DDR“
Anna Seghers und Christa Wolf, Thomas Brasch und Wolf Biermann, Helene Weigel und Sarah Kirsch, Franz Fühmann und Heiner Müller hat er porträtiert. Ganz nah kam ihnen der Fotograf mit seiner Kamera. Er sucht und findet die Individualität der Porträtierten, die Fischverkäuferin, den Museumsdirektor, den Berliner Taxifahrer und den Herzchirurgen. Die karge Weite der Uckermärkischen Landschaft und die herben Gesichter der Bauern; zerfallende Hinterhöfe in Berlin-Prenzlauer Berg fotografiert er ebenso wie frech-fröhlich dreinblickende Halbstarke auf dem Rummelplatz.
Eine Werktätige der Deutschen Demokratischen Republik vor Spindeln am Fenster
Foto: Roger Melis

Keine spektakulären oder gar inszenierte Bilder sind das. Es sind Augenblicke vom Land und seinen Leuten – aus einer vergangenen Welt. „Die Arbeiten von Roger Melis, schwarz-weiße Fotografien, die in ihrer Klarheit und ihrem Bildaufbau an die durchdachte, sorgfältige Komposition alter Gemälde erinnern, zeigen eine andere Welt und andere Menschen als die Fotos in der staatlich gelenkten Presse,“ hat der Schriftsteller Christoph Hein einmal über ihn gesagt.


Dichter und Sibyllen. Bilder in Schwarz und Weiß.

In einer neuen Ausstellung „Roger Melis: Die Ostdeutschen – Fotografien aus drei Jahrzehnten DDR“ zeigt die Stiftung Reinbeckhallen Sammlung für Gegenwartskunst in Berlin Schöneweide vom 12. April bis zum 28. Juli 2019 eine umfassende Werkschau in 21 Kapiteln, davon 12 Reportagen und verschiedene Porträt-Serien.

Roger Melis, herausragende Figur unter den Fotografen der Kriegsgeneration, wurde 1940 als Sohn des Bildhauers Fritz Melis geboren, wuchs im Haushalt seines Stiefvaters, des Dichters Peter Huchel, im Berliner Westen und ab 1952 in Wilhelmshorst bei Potsdam auf.

Melis absolvierte eine Lehre als Fotograf, besuchte jedoch keine der einschlägigen Hochschulen, fuhr als Moses zur See und arbeitete als wissenschaftlicher Fotograf an der Berliner Charité.

Der klassischen Schwarzweiß-Fotografie ist er immer treu geblieben; verblüffend breit ist das Spektrum seiner Themen und Motive. Für ein nicht realisiertes Buchprojekt über das geteilte Deutschland entstanden 1962 erste Porträts von Dichtern und Künstlern aus Ost und West.

Fotoreportagen für das in West-Deutschland erscheinende Magazin Merian durfte er anfertigen und war ab 1968 der erste Modefotograf für die ostdeutsche Frauenzeitschrift Sibylle. Mit der Modejournalistin Dorothea Bertram, die als Redakteurin der „Sibylle“ in der DDR dem Minirock zum Durchbruch verhalf, war er verheiratet.

Als Mitglied im Verband Bildender Künstler (VBK) leitete er die „Zentrale Arbeitsgruppe Fotografie“ und erhielt die Zulassung zur freiberuflichen Arbeit; er gründete zusammen mit Arno Fischer, Sibylle Bergemann die Fotogruppe „Direkt“ und unterrichtete von 1978 bis 1990 an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee.

Roger Melis fotografierte den Alltag in der DDR. Seine Fotos erschienen in Ost und West, in Wochenpost und Neue Berliner Illustrierte, in Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung.


Der Preußische Ikarus im Bild

Wolf Biermann steht als „Preußischen Ikarus“ vor dem Geländer der Weidendammer Brücke. 1975 – ein Jahr später bürgert die DDR Wolf Biermann aus. Haus an Haus in der Chausseestraße haben Melis und Biermann gewohnt.

Der Fotograf nimmt Einblick ins Wohnzimmer des Dichters. Merkwürdiges Bild, der alte, speckige Ledersessel mit der Gitarre, die dinosaurierhafte Schreibmaschine auf dem Tisch. Melis fotografiert auch die Tage- und Arbeitsbücher Biermanns, dokumentiert sie für den Fall, dass „die Firma [die Stasi] sie geklaut hätte“.

Ein gemeinsamer Beitrag mit dem aus der DDR nach West-Deutschland ausgewanderten Schriftsteller Erich Loest für die westdeutsche Zeitschrift Geo war Anlass, dass Melis ab 1981 nicht mehr für die DDR-Presse arbeiten durfte. Er konzentrierte sich auf Buch- und Ausstellungsprojekte.


Lebensströme. Fotografien zwischen Ucker und Seine

Im offiziellem Auftrag des Ostberliner „Volk und Welt“, des wichtigsten Verlages für internationale Belletristik in der DDR, reiste Roger Melis einen Monat nach Paris. Das Buch „Paris zu Fuß“ entstand und wurde mit einer Auflage von 40.000 Exemplaren das erfolgreichste Fotobuch der DDR.

Melis bediente in seinen Bildern keine Klischees der romantischen Stadt an der Seine. Was er zeigte, waren Schlachthöfe und verfallenen Seitenstraßen, Orte des Alltags, die sich in Paris nicht vom Mauerland DDR unterschieden.

Und „ihm war ja völlig bewusst als er nach Paris fuhr 1982, dass es eigentlich eine ‚tot fotografierte‘ Stadt ist. Und es war sicher auch ein großer Druck für ihn, da noch mal was Neues zu fotografieren. Und er hat sich gewiss nicht dahin geflüchtet – na ja in der DDR gibt es das ja noch nicht, sondern er hat sich gemessen an der Internationalen “

„Ich glaube nicht, dass er ein Selbstbild hatte, dass er sich als DDR-Fotograf verstanden hat. Sondern er hat sich als Fotograf verstanden, der in der DDR lebt.“

Mathias Bertram

 

In einem Dorf in der Uckermark kaufte sich Melis ein Haus. Es wurde sein Refugium. Jenseits der Metropolen entstanden Hunderte von Fotos. Er kam an und lebte dort bald nicht mehr als Fremder, sondern mittendrin unter den Leuten auf der Arbeit und bei Festen.

Er machte dabei nichts Besonderes, er hielt schlicht den stillen Alltag fest: die Feldbaubrigade und die Rübenernte, das Paar mit Baby und die Dorfhochzeit. Was diese Fotos eindrucksvoll macht, ist jener Respekt, den Melis den Porträtierten entgegenbringt.

Dabei zeigen seine Bilder einen illusionslosen sozialistischen Alltag. Aber er übersah auch nicht die Träume, die ebenso blühten. Atmosphärisch dicht, stehen seine Fotografien symbolhaft für das Leben in der DDR in Stadt und Land.

Seine behutsamen und eindringlichen Porträts und Reportagen entwerfen ein vielschichtiges Bild der Ostdeutschen. Die Bilder sind.

Werktätiger mit Schiffermütze
Foto: Roger Melis

Der offene Blick den Menschen

„Ich habe“, hat Melis gesagt, „eine große Abneigung gegen die Kunst und Künstlichkeit in der Fotografie.“ Er wollte „erzählende Einzelfotos, in denen eine ganze Geschichte steckt“.

Insofern war er ein kritischer Beobachter des Landes, in dem er lebte, denn Roger Melis verstand, wie Christoph Hein sagte, „zu warten, bis der Blick ins Offene ging, der Mensch sichtbar wurde, er bei sich war und sich zeigte.“

Die von Mathias Bertram kuratierte Ausstellung ist die bislang umfangreichste Retrospektive der DDR-Fotografien von Roger Melis. Mit insgesamt 160 Exponaten zeigt sie neben bekannten klassischen Werken vielzählige Fotografien aus dem Nachlass.

Der Kurator der Ausstellung, Mathias Bertram, lebte als Kind bei seiner Mutter, Dorothea, der Ehefrau von Roger Melis. Heute verwaltet Bertram den Nachlass des fotografischen Werks von Roger Melis und ist Herausgeber für Fotosammlungen namhafter ostdeutscher Fotografen wie Bernd Heyden, Gundula Schulze Eldowy oder Harald Hauswald.


Galerie

Ich bin ein Berliner

Ende April besuchte ich den Fotografen und Wahlberliner Georg Krause in seinem kleinen Atelier in den Spreehöfen/ Schöneweide. In unserem...

Maulbeerblatt 102 Editorial

Nest & Wärme

Und es ist die Zeit der unruhigen Vögel. Überall piept und krächzt es. Das kann man genau so lange ignorieren,...

Maulbeertipp

Wir lieben Dich mehr als Berlin

Neulich beim Zappen durchs öde TV-Programm lief auf RBB ein DDR-Fernsehkrimi aus der Polizeiruf- Serie. Keine Ahnung, wer Opfer war...