Es ist schon irgendwie merkwürdig: Da beschweren sich die allzu konservativen Geschöpfe unter uns nur zu gern bei jeder sich bietenden Gelegenheit über zu viel nackte Haut ihrer Mitmenschen im Schwimmbad, über zu knappe Höschen beim Sport oder laszive Gesten in aktuellen Musikvideos irgendwelcher Pop-Diven, erfreuen sich aber gleichzeitig auf ihren Balkonen, in ihren Schrebergärten oder in öffentlichen Parks an viel intimeren Dingen. Gerade jetzt schauen die wahren Lustmolche wieder vermehrt mit nahezu voyeuristischer Passion ihren wehrlosen Opfern zu – ohne selbst auch nur einmal schief angesehen zu werden. Mir persönlich geht diese moralische Ambivalenz entschieden gegen den Strich.
Drum habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, jene zu vertreten, die leider nicht für sich selbst sprechen können, um damit die zur Räson zu bringen, die bisher auch noch Toleranz für dieses frevelhafte Treiben aufgebracht haben. Lasst euch endlich gesagt sein, was eigentlich schon im Biologie-Unterricht der 3. Klasse Stoff war: Die Blüten von Pflanzen sind deren Geschlechtsteile. Sie nutzen sie zur Fortpflanzung! Und es erfüllt sie mit nie enden wollender Scham, ständig von aller Welt begafft zu werden. Schlimm genug, dass sie sich nicht einfach einen schönen Schlüpfer, geschweige denn eine Hose drüber ziehen können. Doch statt darüber hinwegzusehen, wie es ein wahrer Gentleman und eine echte Lady tun würden, gibt es sogar Widerlinge unter uns, die noch die Kamera darauf halten müssen. Zu Hause zeigt man dann stolz, welche Prachtexemplare man diesmal zu Gesicht bekommen hat. „Die da war besonders groß!“ und „Die Form ist einmalig“, heißt es dann.
An die so skrupellos Geknipsten denkt meistens niemand. Auch nicht daran, dass deren berufliche Zukunft am seidenen Faden hängt, wenn ihre Aktbilder schlimmstenfalls im Internet landen. Denn einmal im Netz, kann jeder Interessierte auf der ganzen Welt mit einem Klick private Einblicke erhalten. Die Pflanzen-Pornographie muss aufhören! Bei minderjährigen Pflanzen wiegt das Ungemach noch weitaus schlimmer als bei erwachsenen. Als wäre der Alltag an der Baumschule noch nicht hart genug, sorgen solche Vorfälle erst recht für psychische Probleme der Betroffenen.
Wird das Mobbing durch Buchsbaum und Stieleiche unerträglich, brechen viele Pflanzen, denen einst eine große Zukunft bevorstand, die Schule ab und enden zwischen Unkraut als billiger Straßenbaum oder lassen sich sogar zu IKEA-Möbeln verarbeiten.
Völlig fehlinterpretiert werden seit jeher hängende Köpfe bei Pflanzen. Die resultieren nämlich überhaupt nicht aus einem Wassermangel. Vielmehr sind sie ein Zeichen für den desolaten Gemütszustand dieser zartbesaiteten Lebewesen.
Andererseits: Wie würden Sie wohl reagieren, wenn jemand an ihrem Geschlechtsorgan schnuppert und sich deutlich hörbar über den tollen Geruch auslässt? Was fehlt, ist eine völlig neue Herangehensweise im Umgang mit unseren stillen Freunden. Nur mit viel Respekt und Zurückhaltung können wir vielleicht eines Tages deren Vertrauen zurückgewinnen und friedlich und nackt nebeneinander existieren.
Eines sollten wir jedoch stets bedenken: Wenn wir uns wahrhaftig bessern wollen, müssen wir auch die Jüngsten in die Pflicht nehmen und lückenlose Aufklärung betreiben. Schließlich sind es vor allem Heranwachsende, die mit „Er liebt mich, er liebt mich nicht“- Spielchen eine besondere Form der sexuellen Folter ausüben.
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Editorial
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