Steak oder Stachelbeere?

Neulich war ich auf einem kleinen Stadtfest. Ein paar Bierwagen, etwas mehr Imbissstände und noch mehr Omas, die ihren Enkelkindern Fass-brause kaufen, bis der ganze Mund rot ist: Der er-probte Jahrmarktsgänger findet sich in der immer gleichen Situation schnell zurecht und strahlt fortan Ruhe und Gelassenheit aus. Beim Anblick von Spielbuden gerät meine Souveränität jedoch regelmäßig ins Wanken. Mein inneres achtjähriges Ich ergreift zunächst die Initiative und bald darauf schon Dartpfeile, um Karten an einer Wand zu treffen, Ringe, um sie auf Stangen zu werfen und Bälle, um damit eine Dosenpyramide umzuhauen.

Für gewöhnlich gewinne ich, vom Trostpreis einmal abgesehen, seit ich denken kann nie etwas, was vielleicht im Ansatz erklären könnte, warum ich mich weiter so beharrlich ausprobiere. Da ist noch eine offene Sache. Eine Narbe, die mich in Harry Potter-Manier schmerzt. Man könnte auch sagen, dass Spielbuden mein weißer Wal sind und ich bin Kapitän Ahab. Umso aufgeregter war ich, als ich plötzlich die Chance hatte, diesem Wal mit einem gelben Filzball den Garaus zu machen. Von einer einst so stolz in den Himmel ragenden Dosenpyramide, die im Sonnenlicht gar wunderbar funkelte, stand nur noch eine Art Mini-Pyramide, bestehend aus drei Dosen, auf dem Sockel. Allerdings hatte ich auch schon zwei von drei Bällen verworfen.

„Na gut“, sagte ich mir, „egal, was passiert: So weit gekommen zu sein, ist für Dich auch schon ein großer Erfolg.“ In der Tat war mir bewusst, dass, sollte es so kommen, das der verdienteste Trostpreis in der Geschichte der Trostpreise sein würde. Die Menge auf dem Stadtfest schien zu begreifen, welch dramatische Szene sich gerade abspielte. Innerhalb von Sekunden umschloss mich plötzlich eine Menschentraube, die mich gespannt mit mehreren Dutzend Augenpaaren an-sah. Ich spürte, wie der Druck, der auf mir lastete, eine Schweißperle aus meiner Stirn quetschte. Ich konnte diese armen Leute doch nicht enttäuschen! Wer weiß, ob es sonst etwas gab, worüber sie sich in ihrem tristen Alltag freuen konnten. In meinem Kopf spielten sich Zukunftsszenarien ab, die nur durch meinen Triumph würden entstehen können: „Weeßte noch, damals, der Lehmann? Wie er einfach die Dosen weggeputzt hat? Das war stark!“ Und alle würden nicken und glücklich sein.

Es war also längst kein persönlicher Kampf gegen meinen Wal mehr, sondern ein Kampf für die Menschheit. Drum konzentrierte ich mich, so gut es ging, umschloss den Ball in meiner Hand fester, bis sich meine Fingerknöchel weiß färbten, und fixierte das Ziel. Dann rief jemand aus dem Publi-kum: „Los, Junge, Sekt oder Selters!“ Das irritier-te mich. Was, wenn ich überhaupt keinen Durst habe? Sondern Hunger? Heißt es dann Steak oder Stachelbeere? Sagen Leute, die Schaumwein gar nicht mögen, Selters oder Sekt? Kann ich im Negativfall auch stilles Mineralwasser bekom-men? Warum denkt man überhaupt in diesem Alles-oder-nichts-Prinzip? Ein Mensch, der in der Wüste gefunden wird, hat sicherlich weder gegen Sekt noch gegen Mineralwasser etwas einzuwen-den. Wäre Selters wirklich gleichbedeutend mit „nichts“, wäre das Glas nicht halb voll oder halb leer, sondern einfach nicht vorhanden. Ich tadelte in Gedanken die Menschheit, der ich eben noch einen unvergesslichen Augenblick schenken wollte, für ihre Gier und ihr Schwarz-Weiß-Denken.

Kurzentschlossen warf ich den Ball auf den verdutzten Budenbesitzer, krallte mir schnell den Trostpreis, drängelte mich an einer Fassbrause-Oma vorbei und entkam laut „Free Willy!“ rufend.


Daniel Lehmann
Ein Beitrag von

Sieht sich selbst gern als Hobby-Philosoph und Weltverbesserer. Die dafür nötigen Groschen verdient er als freischaffender Journalist, Dozent und Autor. Irgendwas mit Kultur hat er auch noch studiert. Zitat: „Lieber den Spatz in der Hand als ein Griff ins Klo.“