Egon Krenz steht an der Tür.
Wollen Sie zu mir?
Ja ich bin etwas zu früh…
Kommen Sie rein. Ich hätte Sie auch mit dem PKW abgeholt bei diesem Regen. Wir haben bis 13 Uhr Zeit. Am Nachmittag kommt ein Filmemacher, er will einen Film über mich drehen.
Es hat auch so geklappt. Die Busfahrerin hat mich fast vor ihrer Tür abgesetzt. Da ist ja offenbar immer was los bei Ihnen…
Ich bekomme viele Anrufe. Auch von Enkeln meiner Generation: „Ach Herr Krenz, unser Opa wird 80. Was meinen Sie, wie er sich freuen würde, wenn Sie ihn anrufen. Oder: Meine Großeltern feiern Eiserne Hochzeit, was meinen Sie, wie sie sich freuen, wenn Sie ihnen einen Brief schreiben!“
Sie können aber nicht auf alles reagieren…
Nein! Das ist ja mein Problem. Hier liegt Post von der vergangenen Woche. Ich komme kaum mit dem Lesen nach, geschweige denn mit der Beantwortung. Ich beantworte jetzt in der Regel vor allem Briefe von jungen Leuten. Mehr schaffe ich nicht.
Junge Leute?
Ja, es schreiben mir auch 14 bis 18-Jährige. Ein junger Mann zum Beispiel hatte von seinen Eltern gehört, dass es in der DDR Marxismus gab und er würde gern mal wissen, was man da lesen sollte. Leute schreiben mir zu meinen Büchern, andere haben Fragen zur DDR oder auch zur aktuellen Situation.
Kommen die Briefe in Ihrem Briefkasten an?
Ja. Vor allem auch per E-Mail. Heute morgen hatte ich 121 ungelesene Emails in meinem elektronischen Postfach. Neulich wollte sich eine Gruppe von Frauen der Jahrgänge Ende 50, Anfang 60 mit mir fotografieren lassen.
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Na wer findet so etwas nicht schön?
Sie machten Selfies. Eine von ihnen sagte: Herr Krenz, wir sind ja mit Ihnen groß geworden. Als Sie Pionier-Vorsitzender waren, waren wir Pioniere, als wir in der FDJ waren, waren Sie unser Vorsitzender und zum Schluss waren Sie unser Staatsratsvorsitzender. Und deshalb fühlen wir uns mit Ihnen so verbunden. Das hat mich natürlich sehr gefreut. Ich bin kein weltfremder Mensch. Und natürlich ist das nicht bei allen so.
Na ihr in der DDR, ihr hattet ja nicht mal Handys…
Wie kommen die Leute denn an Ihre Adresse?
Aus dem Internet. Datenschutz trifft in diesem Fall auf mich nicht zu.
So viel Besuch?
Na ja Besuch…die Leute kommen und wollen Autogramme haben. Jetzt wollen sie mein Buch signiert haben oder ein Selfie mit mir machen.
Sind Sie immer aufgeschlossen?
Wenn ich Besuch habe, sag ich das schon ab. Einmal kam ein Abiturient aus Leipzig für einen Vortrag über den 9. November 1989. Er hat sehr intensiv gefragt. Er studierte später Journalistik und hat das Material auch im NDR gesendet. Er hat gesagt, er hätte bei Egon Krenz geklingelt. Dabei habe ich gar keine Klingel. So beginnt mein neues Buch…
Und sie haben immer noch keine Klingel?
Nein, da müsste ich ja dauernd vorlaufen. Ich sitze viel am Computer und schreibe und da komme ich ja immer wieder raus aus der Arbeit, aus den Gedanken.
Ich möchte gern mein Wissen als Journalistin zum Thema „Medienkompetenz“ an junge Leute weitergeben und habe Kontakte dazu recherchiert und war angenehm überrascht, dass die Bildungssenatorin von Berlin, eine gebürtige Dresdnerin, eine eigene Website hat und ich sie anschreiben konnte.
Egon Krenz: Und sie hat eine DDR-Biografie?
Ja. Ich hab sie angeschrieben, weil ich mich einbringen will und die Schüler inspirieren will, sie aktivieren will. Schule ist heute so passiv. Man wird die ganze Zeit berieselt. Gut, ich fand Schule auch nicht immer toll.
Ja klar, Schule ist nicht jeden Tag schön für einen Schüler. Beurteilt wird jedoch danach, was man lernt. Und gelernt wird heutzutage leider viel zu wenig.
Und die Schule hat auch am Nachmittag Angebote gemacht. Ich erinnere mich so gern an einen Samowar-Nachmittag. Wir haben mit dem Vater eines Klassenkameraden Pelmeni gekocht. Die haben wir selbst hergestellt. Ich war 10 Jahre alt. Das war etwas, das bleibt. Wie auch alle meine Ferienlager in toller Erinnerung für mich bleiben. Die Aufregung zur Disco, Tischtennis spielen, Frühsport, auf den wir alle keinen Bock hatten. Das hat uns alle verbunden. Das bleibt. Ich hatte eine schöne Kindheit und Jugend in der DDR. Dafür muss man sich doch nicht schämen, im Gegenteil!
Und: Das Wichtigste in diesen 40 Jahren: wir hatten keine Kriege.
Ich glaube auch, dass wir eine friedliche Revolution hatten, weil wir friedliebend erzogen wurden.
Ja. Das ist auch meine Antwort, wenn ich gefragt werde, warum ich 1989 keinen Befehl zum Einsatz der Armee gegeben habe. Ich sage dann: Weil ich in der DDR zur Schule gegangen bin. Und dort wurde zum Frieden erzogen.
Ich habe in Halle an der Arbeiter- und Bauernfakultät mein Abitur gemacht, es war der letzte Jahrgang 1992. Unser Abitur war gefährdet wie alles plötzlich, wir haben demonstriert vor dem Landtag in Magdeburg.
Auf der ABF in Halle wurden Studenten für das Auslandsstudium vorbereitet.
Genau. Ich sollte in Budapest Wirtschaft studieren. Mit diesem Ziel kam ich 1990 dorthin und ich wusste schon, dass dies nicht passieren würde. Wir hatten einen ganz intensiven Ungarisch-Sprachunterricht. Wir hatten tolle Lehrer, echte Pädagogen und eben auch gute Menschen, die auch bis zum Schluss dabei waren und nicht einfach gingen, als die Mauer gefallen war. Die uns nicht im Stich ließen in dieser chaotischen Zeit.
Die ABFs wurden zunächst mit dem Ziel geschaffen, dass Leute Abitur machen konnten, die durch die Kriegsereignisse nicht dazu kamen. Und es ging um die Beseitigung der Ungerechtigkeiten m Bildungswesen. Arbeiter- und Bauernkinder wurden besonders gefördert.
Später war die ABF ja eher eine Kaderschmiede.
Richtig und es wurden auch nicht nur Diplomaten ausgebildet, sondern sämtliche Fachrichtungen. Unsere Diplomaten haben vor allem in Moskau eine hervorragende Ausbildung erhalten, sowohl in der Landeskunde sowie in der entsprechenden Landessprache. Dennoch wurden sie 1990 alle entlassen. Ich kannte unseren Botschafter in der Volksrepublik China sehr gut. Er hat mit seiner Frau zusammen in den 50er Jahren in Peking studiert und danach einige Jahre in der Handelsvertretung und der Botschaft gearbeitet. Beide sprachen perfekt chinesisch. Der bundesdeutsche Botschafter hatte eine solche Ausbildung nicht. Dennoch wurde 1990 der Botschafter aus der DDR nach Hause geschickt und der weniger qualifizierte vertrat nun Deutschland.
Immer noch viele Menschen verleugnen ihre DDR-Vergangenheit. Ich mache eher gute Erfahrungen damit, wenn ich von meiner Herkunft ganz klar und dankbar erzähle.
Es hat sich viel verändert. Ich sehe ja auch, wie freundlich sich die Menschen mir gegenüber verhalten. Das war ja in den Neunzigern anders.
Womit hat das etwas zu tun?
Ich glaube, dass viele Menschen Geradlinigkeit schätzen. Sie mögen nicht, wenn man seine Gesinnung nach dem Winde dreht. Die Leute sind offener geworden. Sie lassen sich ihr Leben nicht mehr pauschal schlecht reden.
Wer lädt Sie denn mit Ihrem Buch zu Veranstaltungen ein?
Buchhandlungen, Vereine, Kommunen, vor allem auch der „Rotfuchs“. Rotfuchs ist eine Vereinigung von Sozialisten, Kommunisten und Parteilosen, die eine Zeitschrift gleichen Namens herausgibt. Es kommen glücklicherweise viele Menschen zu meinen Veranstaltungen.
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Was ist neu am Interesse an Ihnen?
Die Art der Fragen hat sich verändert. In den Neunzigern fragte man: Wie konntet Ihr in der DDR nur solche Dummheiten machen? Das ist zurückgetreten. Jetzt bekomme ich Fragen wie: Wie schätzt Du die Weltlage ein? Was sagst Du zu Russland, was hältst Du von China?
Sie sind nicht wegen Biermann gegangen, sondern wegen der Tatsache, dass es in der DDR möglich war, jemanden auszuweisen.
Haben Sie sofort eine Antwort?
Um manche Antwort muss ich auch ringen. Ich bin jetzt nur noch Zeitungsleser. Ich bekomme meine Informationen ja nicht von der Regierung, sondern muss sie mir auch erarbeiten. Aber natürlich spielt bei Einschätzungen auch meine politische Erfahrung eine Rolle. Ich bin der Meinung, dass wir uns in der gefährlichsten Zeit seit dem zweiten Weltkrieg befinden. Das begründe ich dann auch. Da gehen die meisten auch mit, gerade die Älteren, die einen Krieg erlebt haben. Diese Menschen haben einfach Angst vor einem neuen Krieg, auch für ihre Enkel, für ihre Kinder. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn man sieht, wie das gemacht wird: Völkermord im Gaza-Streifen und die deutsche Regierung liefert Waffen an Israel.
Die ältere Generation hat vielleicht auch noch Kriegstraumata, da wurde viel noch nicht verarbeitet?!
Wenn man sich die Politiker heute anschaut, da ist ja kaum noch einer dabei, der Vertrauen ausstrahlt und Zuversicht gibt. Man kann zu den Politikern der alten Bundesrepublik stehen, wie man will, aber Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß, das waren noch Politiker, die politisch argumentieren konnten. Glücklicherweise haben die heutigen Politiker keinen Krieg erlebt. Ich wiederhole: Glücklicherweise! Sie sprechen aber mit einer Leichtigkeit über Kriege, dass einem Angst werden kann. Wenn Sie mal die Reden verfolgen, dann ist das Wort Frieden wie ein Fremdwort. Dafür hören wir nur noch Worte wie Waffenlieferungen, Sondervermögen, Kriegsproduktion, Rüstung, Wehrpflicht, Kriegsbereitschaft und andere.
Lesen Sie viel?
Ja, ich lese sehr viel. Dazu braucht man Zeit. Wenn ich z. B. Bücher schreibe, muss ich oft in meinen Unterlagen nachlesen. Ich habe zum Glück ein sehr gutes Archiv, aus dem ich schöpfe.
Seit geraumer Zeit schicken mir Leute, die ich gar nicht kenne, ihre eigene Lebensbiografie, die sie für ihre Kinder und Enkel geschrieben haben. Sie möchten meist eine Meinung dazu und wenn es geht, mache ich das natürlich. Aber das alles kostet Zeit und ich wünschte mir, ich könnte mehr Schöngeistiges lesen. Ich widme meine Hauptzeit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Das ist mein Lebensziel. Ich werde bald 87. Da sind die Kräfte nicht mehr so wie in der Jugend.
Aber Ihr Geist ist noch sehr frisch!
Lacht. Na, das weiß ich nicht…
Sie haben gesagt: Bevor wir ausgebürgert werden, gehen wir lieber vorher.
Aber ich. Ich habe ja Vergleiche. Und ich staune, dass es Menschen gibt im fortgeschrittenen Alter, die so hochaktiv sind. Es liegt sicher auch an den ausgeübten Berufen: Lehrer, Schauspieler, Sie waren Politiker. Was ist es? Ist es Training? Viel Lesen. Viel Schreiben?
Wenn ich mich nicht täglich damit beschäftigen würde, wäre das Erkennen von Zusammenhängen sicher schwieriger.
Sie sprachen von ihrem Archiv als eine Art Glücksumstand. Ich bewundere Menschen für ein gutes Archiv und auch dafür, sich bis ins Detail einer Minute an etwas erinnern können. Das ist ja auch eine unglaubliche Gedächtnisleistung… ist es bei Ihnen die Mischung aus beidem?
Mir wird ein relativ gutes Gedächtnis bescheinigt. Natürlich kann ich nicht alles wörtlich wiedergeben. Da habe ich aber ein Archiv aus DDR-Zeiten.
Außerdem hatte ich ja auch noch einen Strafprozess, war angeklagt und kam auch ins Gefängnis. Meine Anklageschrift hatte 1.554 Seiten. Davon waren 54 Seiten juristischer Art, das andere war die deutsch-deutsche Geschichte seit 1945 bis zur Gegenwart, doch nur aus der Sicht der alten Bundesrepublik. Das heißt, ich bin regelmäßig ins Bundesarchiv gegangen und habe versucht, meine Erkenntnisse mit den vorliegenden Akten zu vergleichen. Da habe ich ungefähr 28 große Hefte vollgeschrieben. Das habe ich jetzt alles und das kann mir keiner nehmen. Zudem habe ich meine Kalender und kann dadurch die wichtigsten Veranstaltungen, die ich hatte, rekonstruieren, die Sitzungen, was zur Debatte stand. Ich habe auch die Zeitungen aufgehoben, z.B. vom ganzen Jahr 1989 habe ich das Neue Deutschland.
Die tägliche Ausgabe? Etwa 300 Zeitungen? Ein tolles Zeitzeugnis. Das hat sonst nur das ND selbst…
Ja aber ich verbinde natürlich mit vielen Artikeln mehr. Weil da bestimmte Dinge, die in der Zeitung standen, vorher im Politbüro entwickelt wurden und ich kenne die Autoren.
Was haben Sie zuletzt gelesen?
Dirk Oschmanns Buch. Auch Katja Hoyers Buch. Sie war mehrfach hier. Das waren sehr angenehme Gespräche. Sie hat auch DDR-Wurzeln, man merkt das an ihrem Herangehen. Sie versucht, aus ihrer Sicht zu erzählen. Das finde ich bemerkenswert. Und alles mit einer menschlichen Reife geschrieben, obwohl sie noch recht jung ist.
Menschliche Reife ist nicht altersabhängig. Nochmal zurück zum Lesen und Informieren: Ich kenne etliche Menschen, junge, ältere, die keine Zeitung mehr lesen, weil sie sich nicht objektiv informiert fühlen, auch nur noch Negativ-Berichterstattung. Fehlendes Vertrauen auch in die Medien, ihre Berichterstatter…
Ich kenne auch Menschen, die keine Nachrichten mehr hören. Manche haben kein Verständnis, keinen Zugang mehr zur Politik. Bei meinen Enkeln spüre ich Interesse, weil sie mit mir Gespräche führen wollen. Für viele ist das Handy zur einzigen Informationsquelle geworden. Ich habe sogar mal eine sehr ulkige Schlussfolgerung gehört: „Na ihr in der DDR, ihr hattet ja nicht mal Handys…“
Sie sagen: Sie erarbeiten sich Ihr Wissen. Welche Zeitungen lesen Sie?
Ich habe einige Zeitungen elektronisch, die lese ich am Computer oder mit dem I Pad, z.B. das Neue Deutschland, die Junge Welt, den Freitag, vor allem links orientierte Blätter. Aber ich lese auch die FAZ. Ich bin zwar kein Politiker mehr, doch ein politischer Mensch bleibe ich bis zu meinem Lebensende. Die Bedingungen, unter denen die Politiker heute arbeiten, sind nicht leicht. Ich bin nicht geneigt, pauschal gegen Politiker zu argumentieren, aber doch zu der Art der Politik, die sie machen.
So viel Unsinn wie Biermann verzapft hat, kann man gar nicht verzapfen.
Wir werden ja seit 30 Jahren immer wieder mit den Fehlern, dem Negativen wie Stasi, Doping und Schießbefehl konfrontiert und immer wieder müssen wir uns mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen, uns dem auch entgegen stellen mit all den guten Errungenschaften wie Frauenrechte- und politik, Bildungspolitik, diplomatische Beziehungen, Kinder, Sport. Glauben Sie, dass durch die Menge an Kritik unser Reflexionsvermögen geschult wird, eine eigene Haltung erst möglich wird?
Sicherlich. Das geht. Ich bemühe mich ja darum seit über 30 Jahren. Ich versuche, differenziert zu denken. Meine Absicht an die Wissenschaft, die Historiker wie auch an die Politik ist, dass man versucht, eine wahrheitsgemäße Darstellung der DDR zu verbreiten. Das heißt nicht unbedingt „Hurra“. Ich wehre mich gegen die einseitige Beurteilung und man muss auch aufhören, nur über die zu sprechen, die weggegangen sind und die gegen die DDR waren. Man vergisst, dass Millionen nicht nur hier geblieben sind, sondern auch mit dem Land verbunden waren. Sie haben das Leben gemeistert. Es ist wichtig, auch deren Meinung ernst zu nehmen. Die Beziehungen untereinander waren in der DDR menschlicher.
Übrigens: Wäre es nach der DDR gegangen, wäre Deutschland nicht gespalten worden. Die DDR ist davon ausgegangen, dass Deutschlands Einheit erhalten bleibt. Das wurde im Potsdamer Abkommen auch so festgelegt. Für die Sowjetunion war ein einheitliches Deutschland, das nicht der NATO angehört, günstiger als ein geteiltes Deutschland, bei dem ein Teil der NATO angehört.
Das ist wenig bekannt bzw. wird nicht erzählt.
Generell wird oft die Geschichte der ersten Nachkriegsjahre in der DDR vergessen. Wo wirklich in der DDR die Nazis, die Kriegsverbrecher enteignet worden sind, wo es eine Schulreform und eine Justizreform gab.
Uns wurde ja auch vor ein paar Jahren vorgeworfen, dass wir uns nicht mit unserer Vergangenheit beschäftigt hätten. Dabei waren wir als Jugendliche in Buchenwald, das war Pflicht in der Schule und es hat mich persönlich sehr mitgenommen als damals 14-Jährige. Es war nicht fassbar. Wir haben auch in Geschichte darüber gesprochen, sehr viel auch in Deutsch.
Als Kind und später als Jugendlicher habe ich antifaschistische Literatur gelesen wie zum Beispiel „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers , „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz, „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolaj Ostrowski, „Die erste Reihe“ von Stefan Hermlin und auch sowjetische Literatur wie „Die junge Garde“ von Fadejew oder „Der Stille Don“ von Scholochow.
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Woran erkennen Sie Wahrheit? Wie machen Sie das? Intuitiv? Mit Ihrem Erfahrungsschatz?
Man muss sich doch immer, gerade in der Politik die Frage stellen, wem dient etwas? Ich bin schon dabei, nicht nur so dahin zu sprechen, sondern mich an Tatsachen zu orientieren. Wahrheit ist oft relativ, doch wenn man sich bemüht, bekommt man auch die volle Wahrheit. Ich finde, dass die Wahrheit gerade beim Thema DDR in der so genannten Aufarbeitungs-Industrie keine Rolle spielt. Da spielt die Ideologie eine Rolle, da spielt eine Rolle, dass die DDR eine Diktatur war, was zunächst nicht einmal falsch war, wir haben es als eine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit verstanden und das ist ja schon ein Unterschied zu einer Diktatur des Kapitals. Dass die DDR-Diktatur allerdings gleichgesetzt oder verglichen wird mit der faschistischen Diktatur, das ist unerhört.
Ich habe mich nicht diktiert gefühlt. Das Wort klingt sehr hart. Gleichzeitig steckt auch Führungsstärke darin.
Ja, wir hatten ein anderes Gesellschaftssystem, ein Gesellschaftssystem, in dem es kein Berufsparlament gegeben hat, sondern ein Parlament, in dem Arbeiter, Bauern waren und natürlich auch Politiker. Aber die Leute haben in ihren Berufen gearbeitet, sie sind zur Tagung der Volkskammer gekommen als Arbeiter, Bauern, Lehrer, Intellektuelle, Juristen usw.
Also der Querschnitt der Bevölkerung?
Ja. Heute sind im Bundestag fast nur bestimmte Berufsgruppen vertreten.
Oder Leute, die Politik studiert haben.
Ob das nun unbedingt eine Demokratie ist, die sich da im Bundestag repräsentiert? Wo man damit rechnen muss: Wenn sie heute in der Opposition etwas kritisieren und sind morgen an der Macht, dann gilt die Kritik nicht mehr, ist sie nicht mehr wahr. Man kann an der DDR Manches kritisieren, sie jedoch als faschistische Diktatur einzugruppieren, als hätten wir da weitergemacht, wo die Nazis aufgehört haben, das ist dreist.
Was jetzt nicht aufgeschrieben wird, geht leider verloren.
Man kann doch die DDR auch nur verstehen, wenn man Bestandteil war, in ihr gelebt hat. Mir ist noch ein Zitat einer Magdeburgerin in einem Interview im Kopf, die sagte: Na die DDR wollen wir ja alle nicht zurückhaben. In mir hat dies großes Unverständnis ausgelöst. Die, die es sagte, ist erst nach der Wende geboren.
So wie die DDR am Ende war, würde ich sie auch nicht haben wollen.
Am Ende?
Es ist auch falsch, glaube ich, die DDR nur von ihrem Ende her zu sehen. Es hatten sich dann doch eine Reihe von Problemen angesammelt, nehmen wir nur mal die Leute, die uns verließen. Da hat die Partei- und Staatsführung nichts dazu gesagt außer dem komischen Satz von Erich Honecker: Wir weinen ihnen keine Träne nach.
Es sind ja bis kurz vor dem Mauerfall Ende der Achtziger so viele Künstler gegangen, Musiker, Schauspieler. Wie hätte man so etwas kommunizieren können?
Das Problem war, dass wir nach der Biermann-Ausbürgerung versucht haben, Manches administrativ zu lösen. Bestimmte Leute, die eigentlich DDR-verbunden waren, haben plötzlich keine Filmrolle mehr bekommen. Das war natürlich nicht gut. Das hat uns viel geschadet. Sie sind nicht wegen Biermann gegangen, sondern wegen der Tatsache, dass es in der DDR möglich war, jemanden auszuweisen.
Ach so, diese Leute wollten selbst entscheiden. Eine Frage der Eigenmächtigkeit also?
Sie haben gesagt: Bevor wir ausgebürgert werden, gehen wir lieber vorher. Eine Ausbürgerung ist immer unangenehm und politisch fragwürdig. Mich hat damals Konrad Wolf angerufen und gesagt: Egon, Du musst mit Erich reden, dass die Sache zurückgenommen wird. Da ich damals aber auch überzeugt war, dass wir Recht hatten, hab ich gesagt: Aber wieso soll ich das machen? Konrad Wolf sagte: Du wirst es nicht aufnehmen wie wir. Wir sind von den Nazis aus Deutschland ausgewiesen worden. Wir wollten eigentlich immer ein Deutschland, aus dem niemand ausgewiesen wird.
Er hatte eine andere Perspektive.
Wegen Biermann als Person sind die wenigsten weggegangen. Selbst Manfred Krug hat gesagt: So viel Unsinn wie Biermann verzapft hat, kann man gar nicht verzapfen.
Ich sage immer: Es wäre nun toll, wenn man das Beste aus beiden Gesellschaftssystemen nimmt und daraus etwas Neues macht.
Aber das war eine Illusion mancher-Bürger nach der Wende. Sie wollten das Soziale aus der DDR und die Waren aus der Bundesrepublik. Aber das wird nicht gehen. Die soziale Sicherheit, die wir in der DDR hatten, ist natürlich nicht übernommen worden. Bekommen haben wir den Kapitalismus.
Und es hieß immer: Wir Ostfrauen sind die Gewinnerinnen der Wende. Das habe ich sogar eine ganze Weile geglaubt bis ich als Alleinerziehende zweier Kinder merkte, was wir alles aufgegeben haben, was in der DDR schon als selbstverständlich galt: Die Frauen konnten nach dem Babyjahr immer wieder in ihren Beruf zurückkehren. Eine Rente ab 60 für die Frau. Ein bezahlter Haushaltstag pro Monat, also 12 Tage im Jahr. Das gibt es heute nicht mehr. Und auch die Unsicherheit ist groß.
Meine letzte Frage: Hatten Sie, als Sie das Buch geschrieben haben, ein klares Ziel vor Augen?
Meine Biografie ist ein Teil der DDR-Geschichte. Der zweite Band enthält die Erkenntnisse aus den Jahren bis 1988. Das waren sehr entscheidende Jahre für die DDR. Im Nachhinein sage ich sogar, es waren Schicksalsjahre. Weil Vieles von dem entstand, was sich 1989 entlud. Das Ziel meiner Biografie besteht darin, meine Sicht auf die DDR dazustellen und zu zeigen, dass die DDR viel mehr war als eine Fußnote der Geschichte.
Was jetzt nicht aufgeschrieben wird, geht leider verloren.
Vielen herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Sehr gern.