60 Jahre Sputnik

Der rote Zeigefinger
Gerade noch rechtzeitig kam die Agenturmeldung, um auf die Titelseiten am Samstagmorgen zu gelangen. „Ein jahrtausendealter Traum der Menschheit wurde Wirklichkeit“, jubilierte das Neue Deutschland. Eine „epochale Pioniertat der sozialistischen Wissenschaft“ wurde gefeiert und „das größte Ereignis der Neuzeit“, als am Freitag, dem 4. Oktober 1957, 22:28 Uhr Moskauer Ortszeit, vom Weltraumbahnhof Baikonur in der Kasachischen Sowjetrepublik eine Trägerrakete den ersten künstlichen Erdtrabanten in die Umlaufbahn des Planeten wuchtete. Im Durchmesser nur 58 cm maß die auf Hochglanz polierte Aluminiumkugel. Vier windschnittige Antennen hielten die 83,6 Kilogramm Weltraumfracht auf Kurs. Aufgeregt piepste ein inwendig installierter Kurzwellensender in die Weiten des Kosmos. Seine Kugelform, so geht die Legende, verdankt Sputnik dem ästhetischen Empfinden seines Ziehvaters, des Konstrukteurs Sergeij Koroljow. Der soll der Ansicht gewesen sein, dass die Kugel als Symbol der Vollkommenheit gerade gut genug für den Sputnik sei.

Der Sputnik fliegt durchs All

Sputnik I war gestartet. Das Zeitalter der Weltraumfahrt hatte begonnen

Der Wettlauf zum Weltall war seit langem im Gange. Mit dem Ausscheiden des deutschen Kandidaten im Jahre 1945 eiferten sowjetische und US-amerikanische Militärs und Wissenschaftlicher im Zweikampf um den ersten Platz an der Sonne. Aus den deutschen Zentren der Raketentechnik, aus Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom, aus Nordhausen im Thüringer Südharz und aus Berlin schafften sie fort, was in dieser Sache zu verwerten war. Die Sowjets demontierten die ehemaligen Waffenschmieden und boten: Karrierefortsetzung statt Kriegsgefangenschaft, Sonderverpflegung statt Hungerrationen für mehr als 2000 Konstrukteure, Naturwissenschaftler und Techniker. Die Amerikaner verluden das Peenemünder Archiv, schafften 341 Güterwagons Material aus dem Südharz bis Ende Mai 1945 über den Atlantik. Und sie losten des vormaligen Führers Raketenchefentwickler, Wernher von Braun, unbemerkt in die USA – gefolgt von 127 seiner besten Leute. Am 21. August 1957 wurde die erste Interkontinentalrakete der UdSSR erfolgreich gestartet. Damit hatten die Sowjets auch die Reichweite ihrer Kernwaffen auf interkontinentale Maßstäbe vergrößert. Der Kalte Krieg strebte einem infernalischen Höhepunkt entgegen. Der wissenschaftlichen Seite dieses Raketenversuchs schenkte man im Westen daher kaum Aufmerksamkeit. Jedoch hatte die UdSSR mit dem Start der Rakete die Fähigkeit gewonnen, einen künstlichen Erdsatelliten in eine Umlaufbahn zu bringen. Eben dies sollte sechs Wochen darauf mit dem „Reisebegleiter“, was Sputnik auf Russisch heißt, geschehen. Kaum jemand hatte bis dahin daran gezweifelt, dass es die siegverwöhnten Amerikaner sein würden, die das prestigeträchtige Duell um den ersten Vorstoß ins All gewinnen würden. Umso unvermittelter traf es die westliche Welt, als es den Weltraumpionieren in der als technisch unterlegen geltenden UdSSR gelang, als Erste ein künstliches Flugobjekt in den Weltraum zu senden. Jeder Funkamateur konnte seine Signale empfangen, mit Feldstechern und Fernrohren war er sichtbar: Sputnik I umkreiste die Erde.  

Das Ereignis ging als „Sputnikschock“ in die Geschichte ein

Zwischen New York und London reagierten Medien hysterisch und die Börsen machten auf Panik. Ein zweites Pearl Harbor. Die Angst vor einem sowjetischen Atomangriff ging um. Die gedemütigte Supermacht USA sann auf Vergeltung – und startete am 6. Dezember 1957 ihren ersten Satelliten. Doch die Trägerrakete kam gerade mal anderthalb Meter weit, dann sackte sie zurück und explodierte. Fiasko, live im Fernsehen übertragen. Sowjetrusslands erster Mann im Staate, Nikita Chruschtschow, war von der gewaltigen Wirkung im Westen überrascht und forderte, am 12. Oktober zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution einen zweiten Satelliten ins All zu bringen. Und auch das gelang. Am 3. November 1957 startete Sputnik 2 mit der Hündin Laika an Bord. Und im kleinen Satellitenstaat der großen Sowjetunion, in der Deutschen Demokratischen Republik, wurde groß gefeiert. Denn der Sozialismus und allen voraus die ruhmreiche Sowjetunion hatten schließlich ihre technologische Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus und der USA eindrucksvoll demonstriert … Der „rote Zeigefinger“, wie ihn der Schriftsteller Paul Wiens nannte, zog jetzt seine Bahn am Himmel über Deutschland, am Firmament der ganzen Welt. Und im Neuen Deutschland,  titelseitig, stand zu lesen ein Gedicht: Der Satellit. „Der neue Mensch war vierzig Jahre kaum/und seine roten Siegesfahnen wehten/von vielen mächt’gen Zinnen des Planeten/Da stieß er vor schon in den Weltenraum.“ Karl Eduard von Schnitzler machte es keine Mühe, das Triumphgefühl herauszubrüllen: „Es ist kein Bluff, keine Propaganda: Es gibt tatsächlich diesen künstlichen Mond – und es ist ein sowjetischer!“ Und der Dichter Johannes Bobrowski schrieb ein Drehbuch zu einem populärwissenschaftlichen Kinderfilm über eine Schulsternwarte: „Die den Sputnik zuerst sahen“, DEFA 1960. Ein anderer Dichter, Erwin Strittmatter, hat die Tage des Triumphes festgehalten in seinen Sputnik-Gesprächen. Eine grundlegende Verschiebung der menschlichen Perspektive auf die Erde, so hat er es charakterisiert: „Man hat ein Loch in den Heiligen Himmel geschossen“, sagt der Genossenschaftshirte zum Pfarrer von Erwin Strittmatter, worauf der Pfarrer erwidert: „Das unheilige Raketenloch ist nicht größer als ein Erbsloch in einem Zirkuszelt.“ Der Rinderhirt belehrt ihn indes: „Trotzdem kann man durch ein Erbsloch sehen, was im Zirkus gespielt wird.“ „Vernunft, dachten wir, Wissenschaft: Das wissenschaftliche Zeitalter. Da traten wir nachts auf den Balkon, um die Spur der neuen Sterne den Horizont entlang ziehen zu sehen“, schrieb Christa Wolf. Ein Symbol für die Bilder- und Begriffswelt der DDR war geboren. Fortschritts- und Technikgläubigkeit verbanden sich mit dem Überlegenheitsgefühl, die bessere Gesellschaft einer neuen Welt zu bauen. „Daß der Sowjetwissenschaft dieser gewaltige Erfolg gelang, ist kein Zufall“, hieß es im Neuen Deutschland, „das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter des Sozialismus.“ Der Sputnik eroberte nicht nur das Weltall, sondern auch die mindestens ebenso bedeutende DDR. Und in ihr zuerst die Herzen der Kinder: Pionierlieder sollten davon künden. ("Hejo Sputnik … die Fahnen leuchten rot, und die Gesänge klingen froh! Otschen charascho!“) Und den Berliner Weihnachtsmarkt anno 1957: Um eine riesige Erdkugel kreisten nicht Sonne, Mond und Sterne, sondern: der Sputnik. Die Spitze der 30 m hohen Weihnachtsbaumfichte am Alex: ein Sputnik. Eine Briefmarke der Deutschen Post der DDR erscheint vier Wochen nach dem Flug von Sputnik I und in den Wohnzimmern der Ostdeutschen ziert bald so manches Schrankwandregal ein kleiner goldener Weltraumflieger. Die Automobilbauer im sächsischen Zwickau nannten fortan ihre neue Kreation „Trabant“. Und die Erbauer des Berliner Fernsehturms werden noch über ein Jahrzehnt danach dem Sputnik ihre Referenz erweisen und hoch über Ost-Berlin eine sputnikkommensurable Kugel gen Himmel steigen lassen. Vorbei. Der  Sputnik ist verglüht und „wir schütteten den letzten Wein in den Apfelbaum. Der neue Stern hatte sich nicht gezeigt. Wir froren und gingen ins Zimmer, das Mondlicht fiel herein." Bild: Maulbeerarchiv

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