Ein Jahr ohne Stadion. Ein Jahr ohne Union?

Corona hat auch den 1. FC Union verändert. Vielleicht ist manches davon sogar gut?
Erstveröffentlichung am 08. April 2020
Ziemlich genau ein Jahr ist es her, dass der 1. FC Union Berlin den FC Bayern München erwartete. Für den 14. März 2020 war das Spiel angesetzt. Tatsächlich wurde die Partie erst gut zwei Monate später ausgetragen. Ohne Publikum. Obwohl die Liga weiterspielen konnte, und es im Laufe des Jahres auch Spiele mit eingeschränkter Zuschauerzahl gab, begann für viele Unionfans etwas zuvor Undenkbares: Ein ganzes Jahr ohne Stadionbesuch. Ein Loch in der Zeit. Das Jahr, das nicht war.

Christian Arbeit im leeren Stadion an der Alten Försterei
Foto: Stefanie Fiebrig

Bei Union haben sich unterdessen zwangsläufig Dinge verändert, und vielleicht ist manches davon sogar gut. Mit Christian Arbeit, Geschäftsführer Kommunikation des 1. FC Union Berlin, habe ich über diese Veränderungen gesprochen, und wir sind beide nicht wahnsinnig begeistert. Aber vielleicht kommt das noch?

Fußballmüde ist er jedenfalls nicht. „Ich sehe mehr Fußball als früher“, sagt Christian. „Weil es nach wie vor an Echtzeit gebunden ist.“ Dinge, die in Echtzeit passieren, erleben wir gerade nicht so häufig, mit Betonung auf „erleben“. Wir verfolgen das Leben an Bildschirmen, es ist ein Leben aus zweiter Hand. Ungefähr so beschreibt Christian auch die erste digitale Mitgliederversammlung Anfang 2021, die es ohne Pandemie in dieser Form nicht gegeben hätte, „einfach weil es für uns und viele Mitglieder ein emotionaler Höhepunkt im Vereinsjahr ist, der auch aus persönlichem Erleben entsteht.“ Eine Mitgliederversammlung bedeutet, dabei zu sein, wenn Blumenstrauß und Ehrennadel überreicht werden, es bedeutet auch tatsächliche Nähe zu Mannschaft, Trainer, Präsidium. Ein bisschen wie Weihnachten in Familie.

Was wäre hier los gewesen nach dem  5:0 gegen Bielefeld?

Den Zahlen nach war die Mitgliederversammlung online durchaus ein Erfolg, in der Spitze waren 3.800 Menschen mit dabei. Im Vorjahr kamen 2500 in die Verti Music Hall. „Wir haben vielfach gehört: Das war doch toll, kann man nicht eine Mischform finden?“, fasst Christian die Reaktionen zusammen. Richtig wohl fühlt er sich mit dem Gedanken nicht. „Man muss sich sehr bewusst sein, dass diese virtuelle Mitgliederversammlung im Grunde nur für ein Kamerabild produziert wurde.

Aber natürlich denken wir darüber nach, ob man nicht zumindest die live stattfindende Veranstaltung abfilmt.“ Das wäre zwar nicht das Gleiche, wie Urs Fischer persönlich seine Hochachtung auszudrücken, weil er zum Glück gerade da ist, aber die auswärtigen Unionfans würden es vermutlich trotzdem zu schätzen wissen, und unser digitales Treffen war ein Band zu Union in einer Zeit, als Bänder knapp waren. Auf einer rationalen Ebene ist das eine erfreuliche Erkenntnis, aber wenn wir in uns reinhorchen, freuen wir uns irgendwie gar nicht richtig.

Die Veränderungen im Vereinsleben sind allen bewusst, die daran teilhaben. Aber auch auf dem Fußballplatz ist der Alltag ein anderer. Da wäre zunächst die Tatsache, dass jedes Wort, das gesprochen wird, zu hören ist. Jedes. Weil etwas ganz Entscheidendes fehlt: Wir, und der Krach, den wir machen. „Die Spieler haben sich inzwischen daran gewöhnt“, sagt Christian. „Die Art des Coachings hilft unserer Mannschaft recht gut.“

Wer kurz auf die Tabelle schauen möchte: Es ist im Grunde völlig unwirklich. Dazu gehört aber auch, dass die Alte Försterei überhaupt nicht mehr klingt wie die Alte Försterei. „Die Spieler nehmen die veränderte Atmosphäre wahr“, erzählt Christian, und er zitiert sinngemäß Christopher Trimmel, für den Fußball inzwischen wie zur Arbeit gehen sei. „Alle sind immer so schnell wieder weg, es gibt keinen Nachhall.“

„Was wäre hier los gewesen nach dem Sieg gegen Dortmund oder dem 1:0 gegen Leverkusen kurz vor Schluss, nach dem 5:0 gegen Bielefeld? Eine Stunde später sitzt du im Auto, fährst nach Hause, deine Schicht ist zu Ende“, beschreibt es Christian.

Union spielt den besten Fußball, den wir jemals live nicht sehen durften. Vielleicht können wir das später einmal anders und viel enthusiastischer so ausdrücken: Damals, 2020 und 2021, hat Union den besten Fußball der Vereinsgeschichte gespielt! Nur das wird zählen. Aber heute und morgen geht das noch nicht, wir sind noch nicht fertig mit Hadern und Vermissen.

„Es ist ein Leben aus zweiter Hand.“

Im Stadion gibt es seit der Pandemie eine zweite Werbebande über der ersten. Genau an der Stelle sähe man sonst die Zaunfahnen der Fanclubs. Verdrängung? Woanders wäre das vielleicht so. Union wollte ein Angebot für die Sponsoren schaffen, die aktuell nichts von dem nutzen können, für das sie viel Geld ausgegeben haben. Für die, denen Sichtbarkeit im Fernsehen wichtig ist, gibt es diese zweite Bande. Es ist Kompensation. Es ersetzt auch den Sponsoren immer noch keinen Spieltag in der vollbesetzten Alten Försterei, ist aber die zweitbeste Lösung, wenn die beste nicht verfügbar ist.

„Diese zweite Bande war auch deshalb möglich, weil  es von Seiten der Fanclubs und der aktiven Szene die Entscheidung gab: Wenn wir nicht im Stadion sein können, hängen wir unsere Banner nicht dort auf.“ Was es aber außerdem gibt, ist ein großes,

fernsehwirksames Transparent der Fanszene auf der Gegengerade – ein anderes an jedem Spieltag, von Grüßen an die Mannschaft bis zu politischen Forderungen an die Liga.

„Wenn man immer sagt, Union ist ein Verein, bei dem es engen Kontakt untereinander gibt, ist das ein sichtbares Ergebnis davon. Das Stadion ist ja da, natürlich kann die Fanszene eine Botschaft dort hinterlassen. Die sehen wir jetzt Spieltag für Spieltag.“ Es ist ein Interessenausgleich, der da stattfindet. So gut es eben geht. Wir werden einmal sagen können, dass wir auch das hinbekommen haben. Später. Die zweite Bande wird dann nicht mehr da sein.

Was es in diesem Pandemie-Jahr nicht gab und gibt, ist Christians Begrüßung vor dem Spiel. „Weil hier nur wir sind. Die Leute, die hier arbeiten und die Aufstellung vorher kriegen oder Teil der Aufstellung sind.“ Übrig geblieben ist allein die Hymne. Das haben sich die Spieler gewünscht. Das verbindende Moment der Stadionansprache, die so oft Verwerfungen überbrückt, auf Gemeinsamkeiten hingewiesen und Gemüter beruhigt hat, fehlt. Wir müssen uns jetzt selbst drum kümmern, den Zusammenhalt nicht zu verlieren.

Das funktioniert unterschiedlich gut, aber ich bilde mir ein, ich grüße inzwischen auf der Straße öfter wildfremde Leute – einfach, weil irgendwo ganz klein „Eisern Union“ auf ihren Mützen, Jacken oder Pullovern steht. Ich habe Fürsorge erfahren, und dass wir aufeinander achten. Die Stadionansprachen will ich trotzdem zurück haben. Die brauche ich auch. Und wenn ich Christian nicht ganz falsch einschätze, weiß er noch genau, wie es ist, an der Mittellinie entlang Richtung vollbesetzte Gegengerade zu laufen und einen Spieltag so zu beginnen, wie es sich gehört.

Und dann ist da immer noch die Bundesliga, von der ich nicht weiß, ob sie uns verändert oder wir sie. Union ist angeeckt in Momenten, in denen sich andere Vereine reglos-still verhalten haben. Es hat nur ein halbes Jahr gedauert, bis die Idee des Vereins von Corona-Tests vor Veranstaltungen als eigentlich ziemlich plausibel akzeptiert wurde. Im September 2020 vielfach kritisiert, im März 2021 in der Erprobungsphase. Ist es klüger, manchmal einfach nichts zu sagen?

„Ich glaube: Das könnten wir nicht“, sagt Christian. „Wir denken viel nach über das, was wir tun und lassen, und es entspringt auch unserer grundsätzlichen Haltung zum Leben. Am Ende ist es das, was Union ausmacht. Die Freiheit, die daraus entsteht, dass wir Dinge nicht tun, um zu gefallen, sondern weil wir sie für richtig halten – die ist viel wert.

Wir müssen nicht bei jedem Thema die ersten sein. Aber wenn es Themen gibt, zu denen wir eine Haltung haben, werden wir die auch vertreten.“ Wir werden zumindest mental alles beim Alten finden, wenn wir zurück nach Hause kommen, nehme ich an.

Und dann, wenn es soweit ist? Planen wir Orgien? – Stille. –

Tja. Planen ist so eine Sache gewesen, im letzten Jahr „Aber der erste Tag, an dem wir aufmachen und alle rein dürfen und stehen, wie sie vorher standen“, sagt Christian, „wird wie ein Schockerlebnis. Eine Form von emotionaler Überwältigung. Wir müssen das also nicht groß planen, es wird passieren, und so wie es passiert, werden wir es in Erinnerung behalten.

Ich hoffe nur, dass es nicht so lange dauert.“


Aktuell

Rot im Rabu

Illustration: S. Köpcke   Rot war das Motto des Abends und so fand sich diese Farbe in den Kleidern der Damen, den...

holob titel gestaltung illustration Editorial

Hundert Jahre Maulbeerblatt

Zur besseren Orientierung steht an dieser Stelle ausnahmsweise mal nicht nur Vollquatsch geschrieben, sondern im Wesentlichen eine Art auszugsweiser Ausblick...

Der Rübezahl vom Friedrichshain Erzählung

Der Rübezahl vom Friedrichshain

Illustration Niels Wünsch Der 40jährige Harold M., charakter- und äußerlich ein wahrer Rübezahl, der in den Schluchten der Straße am Friedrichshain...