Ein Mann wie ein Baum – nicht zu beugen, nicht zu brechen – gefällt wie eine Eiche. Helmut Kohl ist tot.
Die letzte Ehre, ein europäischer »Staatsakt«. Finale in Strassburg. Ein letztes Mal die ganz große Geste, XXXL, gewaltige Symbolik, »ich bin zwei Tanks«, über den Tod hinaus.
Ach Helle, schon zu Lebzeiten erschien alles an Dir in Sondergröße, mit Bedeutung überladen und auf groteske Weise überdimensioniert. Um so mehr, als Dir im Amt nur Zwerge folgten und Du selbst stets dafür Sorge trugst, dass man Dich nie auf Kinderstühlen fotografierte. Und so musste man Deiner Witwe wohl mit Abschiebung, Beugehaft oder Offenlegung Deiner einstigen Spender drohen, damit sie Dein Mädchen aus dem Osten an Stelle Victor Orbans ein paar Worte des Angedenkens aufsagen ließ.
Mit Deinem Tod war auch die Stunde Deines verstoßenen Sohnes gekommen, der mit Begleitschutz der Presse vergeblich an Deine verschlossene Tür klopfte, um seine böse Stiefmutter öffentlich herauszufordern, seines Schöpfers schwere Überreste nach Berlin zu überstellen, für ein Brandenburger-Tor-Event mit letztem großen Zapfenstreich.
Ach Helle, ich bin Dir einmal begegnet. Nicht dem welken Giganten im Rollstuhl, sondern dem Kanzler aller Deutschen in Saft und Kraft. Es war wohl im Jahr, als die geschichtliche Stunde die Einheit unserer Nation zuließ, also kurz bevor die Landschaften so richtig erblühten. Unsere Fachschule stand damit vor dem Aus und wir Studenten und Dozenten traten an, um am Fuße des Fernsehturms lautstark dagegen zu protestieren. Du warst mit Deinen Spießgesellen, weiß Gott weshalb, in der Marienkirche und wir standen davor und pfiffen und brüllten uns die Seele aus dem Leib. Tapfer und im Schutz der Gemeinschaft spürte auch ich die Kraft unserer Argumente und die Entschlossenheit bis zum Letzten zu kämpfen. Und Du? Du hast uns draußen stehenlassen im eigenen dröhnenden Pfeifkonzert. Und irgendwann wurden wir des Lärmens müde und die ersten dachten, Du hättest Dich längst feige durch die Hintertür verpisst.
Und dann öffnete sich das Hauptportal des ehrwürdigen Gotteshauses und ein Orkan hob an und dies mal kein „Helmut, nimm uns an die Hand, führ uns ins Wirtschaftswunderland!“, denn das war Berlin und nicht Pegida in Dresden. Und dann warst Du da und bahntest Dir Deinen Weg durch die Menge wie ein unaufhaltsamer Güterzug, der mit einer gewissen Bestimmtheit durch eine Kindergeburtstagsgartenparty rollt. Und Du wurdest vor mir groß und größer und riesengroß und wahrscheinlich blieb mir und meiner Trillerpfeife die Luft weg – und so wurde ich von Dir mit einer ruhigen Armbewegung zur Seite gewischt und schon warst Du vorüber. So fühlt es sich an, wenn einen der Mantel der Geschichte streift. Davon kann man seinen Enkeln noch erzählen.
Ach Helle, was soll ich noch sagen – Bimbes, Birne, Saumagen – jeder Witz über Dich wurde schon vor Jahren belacht und die Zeit ist darüber hinweg gegangen und niemand hat Lust, sie nochmal aufzuwärmen. Und ins goldene Buch der Weltgeschichte hast Du Dich selbst eingeschrieben, mit großen Worten, in großer Schrift.
Dein Tod markiert ein letztes Mal den Unterschied zu den Lebenden, die froh waren, Dich auf dem Altenteil zu wissen, die nicht mehr hören wollten, was Du zu ihrem Versagen, zum bedrohten Frieden, zum zerrüttenen Verhältnis mit Russland und zur Rolle Deutschlands in der Mitte Europas anzumerken hattest. Darüber, dass Du Angela Merkel hast hochkommen lassen, hat sich wohl niemand mehr gegrämt, als Du selbst. An hohen Feiertagen rollten sie Dich ganz gern noch mal ins Scheinwerferlicht, um sich in Deinem Glanz zu sonnen und auch weil sie alle sicher sein konnten, dass es Dir an Stimme fehlt, ihnen ordentlich die Leviten zu lesen.
Also machs gut, Helle, Du geliebte, alte Hassfigur meiner jungen Jahre. Falls ich mal nach Speyer komme, schaue ich vorbei und lege eine rote Nelke auf Dein Grab.
Illustration: Sebastian Köpcke