In der Vergangenheit fühle ich mich wohler

Jochen Schmidt erhält den Literaturpreis der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt
Erstveröffentlichung am 15.11.2023
Der Literaturpreisträger Jochen Schmidt
Foto: Tim Jockel
Jochen Schmidt gehörte von 1999 bis 2015 zur „Chaussee der Enthusiasten“, einer berühmten Berliner Lesebühne, die immer donnerstags im Friedrichshain in der Kneipe „Tagung“ tagte. Dort sammelte er erste Erfahrung, wie seine Texte beim Publikum ankamen. Nämlich hervorragend, wenn man die Lacher zählte. Von der Chaussee nun vor die Mattscheibe: Vor vier Wochen erschien sein mittlerweile 23. Buch „Zu Hause an den Bildschirmen“. Am 16.November erhält der Berliner den Literaturpreis der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt, der seit 2005 verliehen wird und mit 10.000 Euro dotiert ist. Jochen Schmidt im Gespräch über die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Gummizellen-Spielplätze und die Poesie bei Pan Tau


Du bekommst den Literaturpreis der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt überreicht. Wann hast Du es erfahren?
Vor vier Monaten. Es ist überhaupt mein erster großer Literaturpreis.

Wie hat Dich diese Nachricht ereilt?
Ich wusste gar nicht, dass es diesen Preis überhaupt gibt und, dass ich ihn bekomme. Es gibt ja so viele Preise und dass es auch im Osten mal einen gibt! Ich bekam einen Anruf und man wollte sicherstellen, dass ich den Preis auch annehme.

Passt es zu Dir, dass der Preis aus Eisenhüttenstadt kommt?
Naja als Ossi hat man immer ein bisschen Angst, dass man wieder abgestempelt wird als Ossi, weil der Preis aus dem Osten kommt. Aber ich freue mich natürlich trotzdem.

Die Stahlstiftung schreibt: „Wer Jochen Schmidt noch nicht kennt, hat etwas verpasst. Seine Romane sind „Wunderkammern“ der Reflexionen und machen Spaß, denn sie sind humorvolle Lebensbeobachtungen mit reichlich Sprach- und Wortwitz.“ Herzlichen Glückwunsch!
Dankeschön! Natürlich passt der Preis auch, weil ich Eisenhüttenstadt mehrmals erkundet habe für mein Buch „Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland“. Ich habe auch viel über die Stadt und das Stahlwerk gelesen und wollte das Werk auch immer einmal besichtigen. Das gehört übrigens zur Preisverleihung dazu, dass man das Stahlwerk besichtigt. Manche hätten das gar nicht gewollt, sagte mir die Dame am Telefon. Ich bin immer dafür, sich Industrie anzugucken, wenn es Industrie überhaupt noch gibt. Dort gibt es ja sogar noch Produktion. Außerdem ist Eisenhüttenstadt durch Tom Hanks (lacht) berühmt geworden.

Du interessierst Dich sehr für Architektur, speziell für die Ostmoderne. Für Dich ist Chemnitz ein Freiluft-Museum für DDR-Architektur, auch Osteuropa interessiert Dich sehr und Du hast viele Städte bereist. Für unser Interview hast Du ein Buch über Beton-Plastiken mitgebracht und Plattenbau-Formen hast Du in einem Quartett-Spiel verewigt. Was verbindet Dich emotional mit diesem baulichen Kulturerbe?
Ja, 2005 haben wir das „Plattenbau-Quartett“ herausgegeben. Mich ärgert oft, wenn unterstellt wird, dass man im Plattenbaugebiet unglücklich sein musste, weil man das Ganze mit den Vorstadt-Ghettos, den Banlieues in Frankreich vergleicht. Damals lebten Akademiker und Fabrikarbeiter in einem Haus, eine völlig andere Mieterstruktur als heute.

Für mich war unser Plattenbau-Viertel in Berlin-Buch als Siebenjähriger paradiesisch. Eine bessere Umgebung hätte ich mir nicht denken können, um aufzuwachsen, was auch viele praktische Gründe hatte. Die großen Straßen führten rundherum und die Häuser wurden durch kleine erschlossen, wodurch man automatisch Tempo 30 fuhr. Und dort sind wir immer mit unseren Rädern entlang geheizt. Da hat kein Erwachsener etwas gesagt.

Ich wurde übrigens auch nur einen Tag zur Schule gebracht, danach ging ich allein. Und nach der Schule Ranzen hingeworfen und ab nach draußen. Die Eltern wussten nicht, wo wir waren und es war ok. Es gab kein Handy und viele hatten nicht mal ein Telefon. Diese Abwesenheit von den Eltern ist sehr notwendig in der Lebensphase, doch es muss auch halbwegs sicher sein. Und das war es eben. Heute ist alles gepuffert wie in einer Gummizelle, und auf diesem Spielplatzboden kommen die Kinder gar nicht mehr in die Situation, Gefahren, Risiko einschätzen zu lernen. Für Eltern ist es schwierig, den Kindern Raum zu lassen und sie trotzdem zu schützen.

Vor vier Wochen kam Dein neues Buch heraus „Zu Hause an den Bildschirmen“, eine Kolumnensammlung Deiner Kolumne „Teletext“, die regelmäßig in der FAZ erscheint. Eine Hörfunk-Rezensentin schrieb, es sei ein Buch für männliche Leser. Sie empfand alles - weil so viel Sport - zu sehr aus männlicher Sicht erzählt
Gar nicht. Frauen schauen doch auch Sport?!

 

Eigentlich sind meine Kolumnen immer besser geworden.

 

Deine Kolumne „Teletext gibt es schon seit sieben Jahren. Was hat sich da entwickelt?
Eigentlich sind meine Kolumnen immer besser geworden. Nach 30 Kolumnen dachte ich: das könnte doch auch ein Buch werden und dann habe ich mir noch mehr Mühe gegeben und versucht, einen Bogen zu spannen und, dass auch der Alltag widergespiegelt wird. Eigentlich sollte es ja um Fernsehen gehen und nicht um mich. Ich fand es aber viel interessanter, über mich zu schreiben oder über die Art, wie Fernsehen im Leben stattfindet und dabei das Leben ein bisschen mitlaufen zu lassen. Es war mir ein Anliegen über die Jahre, dass es auch einen zeitlichen Zusammenhang ergibt.

Muss man viel fern Sehen, um ein solches Buch zu schreiben?
Ich habe ja lange Zeit gar nicht ferngesehen und musste dann dafür konkret etwas angucken. Meist merkt man erst hinterher, dass es ein Thema gewesen wäre. Doch dann ist es schon wieder zu spät, es nochmal zu gucken. Manchmal kommt man zwangsläufig dazu, z.B. im Hotel oder manchmal hängt irgendwo ein Bildschirm, manchmal auch ohne Ton und dann geht es eigentlich mehr darum: Wie finden diese Bildschirme eigentlich heute im Leben statt, die ja jetzt überall sind und nicht mehr nur zu Hause. Zum Beispiel an Bushaltestellen. Wie in „Blade Runner“. Da war das Ganze noch eine Zukunftsversion. Ein Stadtbild aus der Zukunft mit riesigen Bildschirmen…Das ist ja heute normal. Ganze Hausfassaden sind manchmal ein Bildschirm.

Ja, muss man viel Fernsehen? Na wenn ich gerade nichts geguckt habe, gucke ich eben in meine Erinnerungen und überlege, warum sich bestimmte Bilder festgesetzt haben oder welches Fernsehen mich vielleicht beeinflusst hat. Und dann stelle ich fest, dass es bei uns keine Regulierung gab. Meine Eltern haben nie nach einer Altersbeschränkung geschaut oder man hat sich auf die Uhrzeit verlassen. Ich habe auch damals das Testbild eine halbe Stunde angeschaut und mit der Uhr mitgezählt, wenn ich krank war.

Nachts kam die Nationalhymne und dann war wirklich Sendeschluss.

Und es gab Ansager, die sagten: Jetzt ist Schluss für heute. Nachts gab es einen Sendeschluss. Da kam die Nationalhymne und dann war wirklich Schluss. Irgendwann kam dann das Frühstücksfernsehen und dann lief rund um die Uhr das Fernsehprogramm.

 

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Was lief bei Dir als Teenager in den Achtzigern der DDR auf der Mattscheibe?
Das Westfernsehen wirkte mit seinem Programm und den Entertainern viel lockerer als der steife Osten. Natürlich gab es DDR-Kinderfernsehen oder Sportfernsehen, das mir gefiel. Auch Ratesendungen wie „Schätzen Sie mal“ oder „Tele-Lotto“ mit den Kurzfilmen dazwischen. DDR-Unterhaltungsshows wie Kessel Buntes habe ich nie geschaut. Überhaupt DDR-Fernsehen. Ich war in meiner Freizeit aus der DDR weg im Kopf. Es ist natürlich bedenklich, wenn die komplette Bevölkerung abends auswandert…

Ist das West-Fernsehen mitverantwortlich am Mauerfall?
Hundertprozentig konnte der Staat dem Druck des Fernsehens nicht dauerhaft standhalten. Wenn man jeden Abend die Waren, die Reisen, das Traumschiff sieht…das ließ sich nicht kompensieren mit Reisen in die Sowjetunion, obwohl ich im Nachhinein denke, dass Osteuropa auch immer voller Abenteuer war und ist. Man dachte, man hat da schon alles gesehen. Doch das war vollkommener Unsinn, man schafft das ja im ganzen Leben nicht, sich Rumänien anzuschauen (Schmidt schrieb auch die „Gebrauchsanweisung für Rumänien).

In Rumänien z.b. hat man im Rudel Videos im Fernsehen geschaut. Da saß die ganze Hausgemeinschaft um einen Fernseher herum. Stundenlang. Und dass die Revolution kam, kann auch durch das Fernsehen inspiriert gewesen sein. Unsere West-Verwandten wiesen uns allerdings immer darauf hin: „Es ist nicht alles so wie im Fernsehen“. Doch das wollten wir ja nicht hören.

Ist das Gemeinschaftsgefühl, auch des zusammen fern Sehens durch das Handy komplett gestorben?
Na komplett vielleicht nicht, es gibt ja so Internet-Phänomene, da teilt man dann immerhin Filmchen und schaut dennoch allein. Früher war es ja so, dass die Menschen in der Stube saßen, beieinander, eine hat gesponnen, der nächste etwas sortiert und einer hat eine Geschichte erzählt. Man war zusammen und ich glaube nicht, dass die Leute unglücklicher waren. Vielleicht könnte man das in kleinen Formaten reaktivieren.

Wir haben heute eine so große Vereinzelung der Menschen und diese wird ständig vergrößert dadurch, dass jeder seine eigenen Medien nutzt und sich Programm selbst zusammenbaut. Ich glaube, es gibt in der Gesellschaft wieder eine große Sehnsucht nach mehr Gemeinschaft. Mir hat neulich eine Cousine erzählt, dass ihr Mann nachts in Hotels putzen geht, gemeinsam mit vielen Polinnen. Und dort herrsche immer so eine gute Stimmung wie in einem Kollektiv. Das ist so viel wert, dass ihm die Arbeit jetzt sogar Spaß mache. Putzen! Nachts! Unvorstellbar für mich!

Wir leben in falschen, also nicht so menschenfreundlichen Verhaltensmustern…
Wir sind dieses Denken mittlerweile gewohnt: Ja, lohnt sich das jetzt, mit jemandem Zeit zu verbringen, sich mit jemandem zu unterhalten? Bekomme ich dafür etwas? Ist das jetzt eine Investition in mich selbst? Man hat uns dieses Denken eingeimpft: Ist die Zeit mir das wert? Mich zu unterhalten, mit dem Nachbarn z.b. Dadurch, dass das Leben sehr teuer ist, ist man auf Effektivität getrimmt. Man überlegt sich schon, wem man sein Ohr schenkt. Das war natürlich früher anders, weil Geld in der DDR nicht so eine große Rolle spielte.

Und Geld allein macht ja nicht glücklich…
Obwohl ich immer diesem Mythos widersprechen muss, dass man kein Geld brauchte, weil man nichts kaufen konnte. Ich hatte unendlich viele Wünsche. Ich musste nur einmal ins Haus für Sport und Freizeit gehen, da wollte ich Vieles kaufen, vom Fahrradtrainer bis zum Kanu. Ich hätte schon etwas anfangen können mit Geld. Ich war 19, als die Mauer fiel.

Man muss allerdings auch immer aufpassen, dass man den Osten nicht zu sehr romantisiert. Bettina Wegner tat dies 1980 bereits, wie man in der Doku über ihr Leben 2022 erfuhr, dass sie es im Vergleich Ost/ West im Osten menschlicher fand. Sie darf das, sie hat Beides erlebt: zuerst DDR, dann BRD.

Vielleicht sage ich es einmal so und weite es auf Osteuropa aus: man fühlt sich da schneller wohl, weil man nicht so viel erklären muss, wahrscheinlich auch, weil man eine gemeinsame oder ähnliche Vergangenheit hatte. Es gibt so ein gemeinsames Gedächtnis.

Und es gibt eine Form von Herzlichkeit wie bei diesen Polinnen, die es auch schwer haben, und das wird man in Afrika und Südamerika auch finden, überall da, wo eben nicht so viel Geld, materieller Reichtum da ist. Westeuropa dagegen ist so reich, dass man nur damit beschäftigt ist oder auch permanent Angst hat, diesen Reichtum wieder zu verlieren.
Für mich war und ist die Familie wichtig und ich meine damit die Großfamilie. Die wurde, auch gemeinsam mit der Westverwandtschaft, bei uns immer zusammengehalten.

Man schafft gar nicht in einer Kindheit, alle schönen Kinderfilme zu sehen.

 

Und diese Familie machte auch regelmäßig zusammen Urlaub im Oderbruch, wie es in Deinem Buch „Phlox“, für den Du für den Buchpreis nominiert wurdest, zu lesen ist. Apropos Familie und Fernsehen. Wie ist das heute bei Euch zu Hause?
Unser Fernsehprogramm bestimme ich durch den DVD Recorder, der bei uns noch benutzt wird und da schaut dann eben die ganze Familie und meine Kinder freuen sich, dass mir der Film auch gefällt. Das gemeinsame Gucken ist viel schöner. Allein die Astrid Lindgren-Verfilmungen…Man schafft gar nicht in einer Kindheit, alle schönen Kinderfilme zu sehen.

Es gibt sicher auch heute gute Kinderfilme. Doch die müsste man sehr mühsam auf Film-festivals herauspicken. Im Kino oder Fernsehen laufen die gar nicht. Das kommerzielle Programm befriedigt mich gar nicht.

Hast Du durch Deine Fernseh-Erlebnisse in Deiner Kindheit mit Kinderfilmen aus der DDR, Tschechien oder auch der Sowjetunion so hohe Ansprüche?
Kürzlich wurde Gert Müntefering vom WDR geehrt für seine seit den 50ern aufgebaute Zusammenarbeit mit dem tschechischen Fernsehen. „Lucie, der Schrecken der Straße“ oder auch „Pan Tau“ brachte der Journalist ins deutsche Fernsehen. Pan Tau, das war der Mann mit einer Melone, der nicht reden kann, der plötzlich aus dem Nichts auftaucht auf einem Spielplatz und die Kinder dazu anregt, durch ein Loch in eine Schneelandschaft zu reisen. Seine Mission war, Kindern zu helfen. Damals gab es noch keine Hintergedanken wie heute. Man kann sich das heute auf DVD anschauen. In der dritten Staffel beginnt er zu reden.

Hast Du viel Phantasie?
Eigentlich gar nicht. Ich habe auch wenig gelesen als Kind. Meine Mutter wollte immer, dass wir Hörspiele, Schallplatten hören, weil das eher die Phantasie beflügele. Wenn mir langweilig wurde, habe ich sofort den Fernseher angemacht. Ich sehe das heute auch kritisch.

Wühlst Du gern in Deiner Kindheit?
Viele Menschen sind eher der Zukunft zugewandt. Es macht ja nicht jeder gern und wühlt in der Kindheit rum und buddelt. Es war eine Welt von der ich heute manchmal gar nicht glauben kann, dass ich mal in ihr gelebt habe.

Lebst Du lieber in der Vergangenheit?
Na ja klar. In der Vergangenheit fühle ich mich wohler. Aber ich versuche, teilzuhaben als Künstler am Hier und Jetzt. Doch so richtig interessieren tut es mich erst, wenn es vergangen ist. Es hat mehr Poesie. Es ist heute auch einfach zu schlecht im Vergleich zu dem, was schon da war, was ich schon gesehen und gehört habe. Auch was bestimmte youtuber machen, interessiert mich null. Das ist natürlich auch schwierig, wenn man mit seinen eigenen Kindern in Kontakt bleiben will…

Hat das neue Buch den höchsten autobiografischen Wert?
Nicht unbedingt. Aber ich versuche ein bisschen die Gegenwart festzuhalten, weil ich ja mit den Erinnerungsbüchern sehr weit weg bin von der aktuellen Gegenwart. Und wenn ich mich dann mit Internet- und Fernsehphänomenen befasse oder youtube, wenn ich „Germanys Top Model“ oder „Bauer sucht Frau“ gucke, dann weiß ich, dass das gerade Viele gucken und dass ich da nicht so weit weg bin.
Ich will ja auch in der Gegenwart bleiben als Mensch.

Vielen Dank für dieses Interview!

 

Jochen Schmidt liest am 11. Februar 2024 in der SonntagsLese im Kulturhaus Rüdersdorf.

 


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