Ich bin dann auch mal weg | Teil 3

Mit Stoffbeutel und Wanderstock bis nach Santiago de Compostela
Unsere Autorin Lena hat es wirklich getan und sich auf den Jakobsweg gemacht. Hier veröffentlichen wir den dritten und letzten Teil Ihrer Reise zu sich selbst.
Eduardo und Pablo auf dem Jakobsweg
Foto: Lena Franke

Irgendwann saß ich nach meiner Tagesetappe in einem Café laß und genoss die Nachmittagssonne. Da luden mich ein Portugiese und eine Portugiesin zum Kickerspielen ein. Ich gab meiner sozialen Ader einen Ruck und sagte ja. Wir verkackten in ganzer Linie, tranken Zitronenlimo und ich bekam eine Zwiebel vom Kellner geschenkt, damit ich mir noch Abendbrot machen konnte. Wir machten einen Abendspaziergang durch die Stadt und erzählten uns, warum wir diesen Weg laufen.

Und wir waren uns einig – dieser Weg, ob religiös, spirituell, sportlich oder nicht: Er rüttelt an dir und er macht was mit dir. Er holt dich zu dir zurück, wenn du das willst. Und von da an, teilten wir Kekse, kochten abends in den Herbergen und fanden neue Anhänger. Irgendwann waren wir zwei Portugiesen, eine Brasilianerin, ein Tscheche, ein Koreaner und ich. Und es war schön. Auch, wenn ich mich tagsüber immer wieder abseilte. Abends nahmen sie mich herzlich in Empfang. Wir spielten Karten und tranken Bier. Das nennt man Caminovibes. Und ich genoss sie in vollen Zügen.

Jeder Tag hatte einen verlässlichen Rhythmus. Einmal war man überglücklich, einmal stinksauer, einmal am heulen, einmal völlig lethargisch und irgendwann nur noch müde. Und das auch ungefähr in dieser Reihenfolge. Zumindest war das bei mir so.

Eines Tages lief ich so meinen Weg und ich wurde immer müder. Ich war so müde, ich hätte umfallen können und wäre auf der Stelle in einen tiefen Schlaf gesunken. Mein Knie schmerzte zunehmend und mein Rucksack schien eine Tonne zu wiegen und irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Ich konnte keinen scheiß Meter mehr laufen. Ich war am Ende. Ich setzte mich an den Wegesrand und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Während ich da so saß überholten mich etliche Pilger. Und niemand ging an mir vorbei ohne zu fragen, ob alles ok sei und ob ich etwas brauchte. Die stolze Lena winkte ab:

„Alles gut.
Ich brauch nur ne Pause.“

Und dann kam Eduardo. Ein Amerikaner. Ich kannte ihn aus den Herbergen. Er redete laut und viel und lief abends immer mit einem Glas Wein durch die Herberge. In der Nacht zuvor teilten wir uns ein Hochbett. Er lag unter mir und er rüttelte mich mehrmals in der Nacht wach. Das ganze Bett bebte und er brubbelte irgend etwas Unverständliches vor sich her. Doch kein Erdbeben nur Eduardo, dachte ich mir im Halbschlaf.

Nun stand er vor mir mit seinem spanischen Freund. Und ließ sich nicht von mir abwimmeln. Er roch das zehn Meter gegen den Wind, dass es mir ziemlich elendig ging. Ein erfahrener Pilger, der sämtliche Jakobswege schon bewandert hatte. Ehe ich mich wehren konnte trug Pablo, der Freund von Eduardo meinen Rucksack und Eduardo diagnostizierte meine Knieschmerzen. „Du brauchst eine Bandage! Und dein Rucksack ist viel zu schwer für dich. Wie zur Hölle hast du damit bis jetzt durchgehalten?“ Wie zur Hölle kann man so müde sein, war das Einzige woran ich denken konnte. Ein müdes Lächeln war alles was ich hinbekam.

Und so kam es, dass sie mich unter ihre Fittiche nahmen. Mir Kaffee kauften, mir Schmerztabletten unterschmuggelten und mir eine Bandage gaben. Sie wachten den ganzen Tag über mich und trugen meinen Rucksack bis zum Ende der Tagesetappe. Ich weiß nicht, was ich ohne sie gemacht hätte. Am späten Nachmittag kamen wir an. Viel zu spät für Pilger, die noch einen Schlafplatz haben wollen. Aber Gott sei Dank gibt es das Internet. Ich hatte meine Herbergen für die nächsten drei Nächte vorgebucht. (Jakobsweglifehack: Das geht nur mit privaten Herbergen. Die öffentlichen akzeptieren keine Reservierungen, nach dem Motto wer zuerst kommt, mal zuerst. Ja, das ist der Grund, warum man manchmal auch schon um 05:00 Uhr morgens aufsteht. Und ja, das nervt). Am Ende sagte Eduardo:

„Lena, du kannst diesen Rucksack nicht mehr tragen! So schaffst du es nicht nach Santiago!
Lass ihn dir schicken!“

Man konnte sich seinen Rucksack von Herberge zu Herberge schicken lassen. Für 5 Euro. Mein Stolz ließ das nicht zu. Er meinte: „Ich trage dir deinen Rucksack bis zu deiner Unterkunft, wenn du mir versprichst, dass du ab morgen den Rucksack schicken lässt.“ Wir stritten beinahe, aber liebevoll. Eduardo war um die 50. Wir stritten ein bisschen wie Vater und Tochter. Stur wie ich war, nahm ich meinen Rucksack und humpelte zu meiner Herberge.  WELCHER PILGER LÄSST SICH DENN SEINEN RUCKSACK HIN UND HER SCHICKEN?

Als die Schmerzen nicht nachlassen wollten lief ich trotzig zur Rezeption: „Was muss ich tun, damit mein Rucksack morgen zu meiner nächsten Herberge geschickt wird?“ Die Dame reichte mir einen Umschlag, ich schrieb meinen Namen und den Namen der nächsten Herberge darauf, legt 5 Euro in den Umschlag, knipperte den widerwillig an meinen Rucksack und am nächsten morgen ließ ich diesen in der Lobby zurück und machte mich nur mit einem Beutel bepackt auf den Weg.

Irgendwann – nach der Hälfte meiner Tagesetappe hörte ich es hinter mir rufen: „Lena - du hast deinen Rucksack nicht dabei – ich bin stolz auf dich!“ Ich grinste Eduardo beschämt entgegen und meinte, ja manchmal muss man doch auf andere hören.

Es geht auf diesem Weg nicht darum, irgendjemanden etwas zu beweisen. Du lernst deine Grenzen kennen, du überschreitest sie, lernst aber auch sie zu respektieren. Auch wenn das heißt, zu pausieren, Zug zu fahren oder den Rucksack schicken zu lassen. Das ist kein Wettkampf. Das ist dein Weg und du entscheidest wie du ihn gehen willst und sonst niemand. Allein zu entscheiden, diesen Weg zu gehen, ist mutig und stark. Und das bedarf einfach keiner weiteren Rechtfertigung.

So humpelte ich mich mit meinen Stoffbeutel und einem Wanderstock bis nach Santiago.

Als ich in der Ferne die Kathedrale sah, wurde ich von meinen eigenen Gefühlen überwältigt. Ich humpelte zunehmend schneller. Ich war aufgeregt. Das Ziel war so nah und ich konnte es sehen. Nie hätte ich gedacht, dass ich soweit komme.

Und dann war es so weit. Ich durchquerte die letzte Gasse auf dem Weg durch die Altstadt hin zur Kathedrale. Und dann stand ich davor. Und was soll ich sagen. Ich heulte. Mal wieder. Diesmal waren es Freudentränen und Tränen der Erleichterung und nicht des Leids. ICH HATTE ES TATSÄCHLICH GESCHAFFT.

Und dann kamen die ersten aus unserer Truppe auf mich zu und umarmten mich. „Lenaaaaaa – du hast es geschafft, herzlichen Glückwunsch!“ Und hinter mir kam der Rest. Unverabredet trafen wir uns alle auf dem Platz und wir saßen stundenlang dort, bewunderten die Tatsache, dass wir hier saßen, beobachteten das Spektakel, wie nach und nach die Leute ins Ziel kamen und das feierten. Wir schrieben uns Erinnerungen in unsere Pilgerpässe. Zählten unsere Stempel und machten Fotos. Wir waren keine Touristen und keine Einheimischen, wir waren Pilger und das ist was ganz Anderes. Das ist etwas ganz Schönes.

Ich werde wieder kommen. Und dann werde ich länger laufen. Denn das, was da in mir passierte, war erst der Anfang von Größerem. Und das ist kein Pathos, das ist ein Fakt.


PS: Jakobsmuscheln sind überflüssig!
PPS: Der Weihrauchkessel auf der Pilgermesse wurde nur 30 Sekunden geschwungen – es war enttäuschend.
PPPS: Mia hatte recht.

 

Das war der dritte und letzte Teil von Lenas Reise auf dem Jakobsweg. Hier könnt Ihr Teil 1 lesen. Und hier gibts Teil 2.

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