Auf der Suche nach der wahren Wahrheit

Die aktuelle Nachrichtenlage – und ihre Opfer
Erstveröffentlichung am 02.06.2014
Irgendwann bleibt dir der Mund offen stehen und du denkst: Das kann nicht wahr sein, was die Frau dir gerade erzählt. Das darf gar nicht wahr sein. Andererseits – kannst du noch der offiziellen Berichterstattung glauben, wenn es um den Ukraine-Konflikt geht? Auf allen Fernsehkanälen wimmelt es von Sondersendungen, Interviews, Gesprächsrunden. Reporter und Moderatoren reden von terroristischen Banden und, prorussischen Separatisten. Die Zeitungen hauen dir Namen um die Ohren: Putin, Timoschenko, Steinmeier. Aber was wirklich passiert, erfährst du kaum. Sicher, es gibt Seiten im Netz und Publikationen, die sich um ein objektives Bild bemühen, aber dafür musst du selbst recherchieren.

Zur besten Sendezeit gibt es vorgekaute und leicht verdauliche Kost, die du einfach schluckst. Später am Abend, wenn du nicht schon eingeschlafen bist, satt und zufrieden, bekommst du auf den Öffentlich-rechtlichen die Wahrheit bisweilen als Satire präsentiert. So dass du darüber lachen kannst und das Ganze nicht ernst nehmen musst. Manchmal berichtet ein Korrespondent auch Tatsachen und verdreht nichts. Aber dann hast du bloß ein einziges Puzzleteil in den Fingern und weißt nicht, wohin du es setzen sollst.

Aber die Frau, die da auf dem Stuhl sitzt, um die 60 vielleicht und im Blick eine Mischung aus Unsicherheit, Neugier und Provokation, die hat das Puzzle zusammenbekommen. Sie sagt, sie kenne die Wahrheit. Wenn es denn die Wahrheit ist. Doch wer hat noch den Durchblick? Deswegen hat sie ja dieses Gespräch gewollt, weil sie diese Einseitigkeit nicht mehr erträgt. Das verzerrte Bild, das empört sie. Sie hat das Bedürfnis, etwas klarzustellen. „Die großen deutschen Sender und Zeitungen, auch die seriösen, unterstützen mit ihrer Berichterstattung einen faschistischen Putsch in der Ukraine!“ Das ist ihre Meinung.

Die Frau auf dem Stuhl nennt sich Lisa, lebt in Berlin, in Friedrichshagen. Aber sie kommt aus Odessa, einer Stadt am schwarzen Meer, dort ist Lisa groß geworden. Sie sagt, sie wisse, was in der Ukraine tatsächlich passiert, kenne die Verhältnisse, die politische Lage. Sie hat Verwandte und Freunde in der Hafenstadt, spricht ukrainisch und russisch, auch deutsch.

Sie berichtet von einem Massaker, das sich am 2. Mai in Odessa zugetragen habe. „Vor dem Gewerkschaftshaus in Odessa haben Bürger ein Zeltlager aufgestellt. Sie wollen Unterschriften sammeln für ein unabhängiges Odessa, das sich weder auf die Seite der Ukrainer noch auf die der Russen schlagen will. Das haben die Menschen dort schon die ganzen Tage gemacht. Friedlich demonstriert. Aber am 2. Mai kommen die Nazis und Rassisten. Sie rufen: Slawa Ukrayini! Heil Ukraine! Es sind tausende, unterstützt von Anhängern, die aus Kiew geschickt wurden. Darum eskaliert an diesem Tag die Situation.“

Hast du da jetzt richtig gehört? Da gibt es eine ganze Stadt, die unabhängig sein will, und da machen Heil brüllende Ukrainer Krawall, mit Verstärkung aus Kiew? Davon haben sie dir in den Nachrichten nichts gesagt.

Die Menschen vorm Gewerkschaftshaus, so Lisa, auch Frauen, Alte und Kinder, würden wahllos überfallen, geschlagen, erschossen, aufgeschlitzt und am Ende verbrannt, um die Spuren zu verwischen. „Wer sich retten kann, flieht in das Gebäude. Doch es geht in Flammen auf, die Menschen springen aus den Fenstern, werden trotzdem von ukrainischen Faschisten erschlagen. Miliz und Polizei schauen nur zu, halten sich raus. Das Krankenhaus ist gleich um die Ecke, aber erst nach über einer Stunde kommt die Erste Hilfe.“

Stille, Sprachlosigkeit. Jetzt liegt in deinen Augen die Mischung aus Verunsicherung, Neugier und Provokation. Sitzt da eine Separatistin, die sich über dich lustig macht? Eine moskautreue Aktivistin, die dem Kriegstreiber Putin verfallen ist? Eine solche Einschätzung hättest du in den öffentlich-rechtlichen Nachrichten erhalten, auf Spiegel online und Zeit online. Aber diesen Medien war der Vorfall nur eine Randnotiz wert.

Die Frau redet weiter und weiß zu erzählen, dass die überlebenden Opfer verhaftet und der Tat beschuldigt wurden. Nicht die wahren Täter. Lisas Stimme scheint aus dem fernen Odessa zu dir zu sprechen, etwas monoton, aber in einem Rhythmus, der dir die Bilder ins Gehirn stanzt. Aus ihrem Mund klingt alles viel näher und echter, als wenn die Fernsehleute das sagen. Oder gesagt hätten. Und diese Frau, die stundenlang ukrainische und russische Videos zu dem Massaker im Internet angesehen, die darüber mit ihrer Schwester und Freunden in Odessa telefoniert hat, diese Frau soll eine moskautreue Terroristin sein, eine Separatistin? Schwer vorstellbar, aber in der meinungsmachenden Berichterstattung hätte sie in dieser Schublade ihren Platz.

Nein, sie ist keine Separatistin! Lisa richtet sich auf, lehnt sich vor auf ihrem Stuhl. Angriffshaltung! „Ich komme aus Odessa, ich bin eine Odessitin!“ Das bedeutet, wie sie erklärt, dass die Bevölkerung in Odessa ein Schmelztiegel der Nationen ist, schon immer: Russen, Ukrainer, Türken, Griechen, Juden, Bulgaren, Armenier und noch mehr. Um die 130 Minderheiten soll es geben. So sehen sich die Odessiten und darum fühlen sie sich frei, sind in ihrem Selbstverständnis weltoffen. Sie wollen keine Russen sein, und schon gar keine Separatisten. Aber sie wollen auch nicht von Kiew gezwungen werden, ukrainisch zu werden.
Du fragst dich, warum dir das von den Fernsehleuten noch keiner erklärt hat. Da muss erst Lisa kommen und dich ins Bild setzen. Aber sie ist schon weiter im Thema, sagt, dass die Odessiten ihre Leute wieder aus dem Gefängnis holen wollten. „Aber die ukrainischen Polizisten haben sie nicht freilassen wollen. Am folgenden Tag haben 200 Menschen aus Odessa für die Freilassung ihrer Angehörigen demonstriert.“ Im deutschen Fernsehen hieß es, prorussische Milizen wollten die Freilassung ihrer Verbündeten erzwingen.

Da wunderst du dich. All die Korrespondenten, die „live und vor Ort eine Einschätzung der Lage“ geben, mit wem reden die eigentlich? Wohin blicken sie, wenn sie durch Odessa oder Donezk fahren? Können sie nicht sehen, was vor ihren Augen geschieht? Oder wollen Sie es nicht?

Lisa sucht nach Erklärungen. Was sie sagt, erinnert dich an Verschwörungstheorien – das übrigens ein Wort wie eine Waffe ist. Hat es einmal jemand gesagt – „Verschwörungstheorie“ – dann fallen alle Überlegungen in sich zusammen. Lisa meint, Putin solle von den USA bestraft werden – und sie betont, keine Anhängerin des russischen Staatschefs zu sein. Er hat beim Gas- und Ölhandel die Abkehr vom Dollar vollzogen, hat die Öl- und Gasindustrie wieder verstaatlicht, so dass große US-Konzerne nicht mehr mitverdienen können.

Und die Medien? Vielleicht ist es wie im Jugoslawien-Krieg, da gab es auch diese Schwarz-Weiß-Malerei, als bloß die Serben an allem Schuld gewesen sein sollen – obwohl es andere Stimmen zur Lage gab. Hat diese Einseitigkeit am Ende Methode? Geht es darum, dir Feindbilder zu servieren? Um den Nervenkitzel vor der Glotze? Krimi statt News?

Irgendwann rücken die Nachrichten aus dem Krisengebiet in den Sendungen nach hinten, erst ist die Rente mit 63, dann die Europawahl wichtiger. Zwischendurch hörst und liest du überall Bekenntnisse zur Einigkeit eines Kontinents, der für Frieden und Wohlstand steht. Ja, da bleibt dir der Mund offen stehen und du denkst: Das kann nicht wahr sein, was die dir gerade erzählen.


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