Sein oder Haben? SGE oder BGE?

Die Idee des Grundeinkommens á la Michael Müller
Der Regierende Bürgermeister will öffentlich geförderte Jobs und mit ihnen ein solidarisches Grundeinkommen schaffen. Die Idee ist nicht ganz neu. Und sie hat Konkurrenz: das bedingungslose Grundeinkommen.

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Fotos: iStock
Wie viel braucht ein Mensch hierzulande monatlich mindestens zum Leben? 500 Euro, 1.000 Euro oder eher 1.500 Euro? Und: Soll er dafür arbeiten (müssen)? Das sind die zwei Schlüsselfragen, um die sich alles dreht in Sachen staatlicher Existenzsicherung. Und zwar immer wieder, quer durch die Generationen und Parteien. Gerade vor Wahlen. Aber auch dazwischen.

Es ist ein grauer Tag Mitte Mai, an dem die Limousine des Regierenden Bürgermeisters von Berlin hinter die Reinbeckhallen in Oberschöneweide rollt. Mehrere gut trainierte Herren in schwarzen Anzügen und Knopf im Ohr sichern das Umfeld. Es ist nicht gerade so, dass sie die Massen auf Abstand halten müssen. Dabei hat das Thema, das Michael Müller in die Räume des Industriesalons geführt hat, einmal regelmäßig hunderttausende Menschen auf die Straßen gebracht:

Hartz IV als Teil der von der SPD maßgeblich verantworteten Agenda 2010. Ihr „Sargnagel-Thema“, wie viele meinen.

Die Veranstaltung heißt „Das Solidarische Grundeinkommen. Vision oder Illusion“. Vielleicht ist das nicht der Ort oder nicht die Zeit für Visionen. An diesem Dienstagabend jedenfalls sind nicht hunderttausende, sondern gerade einmal etwa 45 Frauen und Männer gekommen, um zu hören, wie der führende SPD-Politiker der Hauptstadt die umstrittene Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht nur reformieren, sondern „im besten Fall“ abschaffen und durch ein Solidarisches Grundeinkommen ersetzen will. So hatte er es in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel formuliert.

Seine Vorschläge lösten ein überregionales Medienecho aus, riefen Kritiker aller Parteien (auch innerhalb der SPD) auf den Plan und laden seither zu vielen Fragen ein. Zum Beispiel zu diesen: Was unterscheidet das Solidarische Grundeinkommen von der Grundsicherung durch Hartz IV? Und was vom bedingungslosen Grundeinkommen, das andere fordern?


Was ist die Idee des solidarischen Grundeinkommens (SGE) und für wen ist es gedacht?

Wer mehr als ein Jahr ohne Arbeit ist, soll eine „sinnvolle und gesellschaftsrelevante“ Beschäftigung angeboten bekommen. Die kann er (oder sie) annehmen, muss aber nicht. Wer das SGE wählt, hat einen unbefristeten sozialversicherungspflichtigen Job mit einem Verdienst mindestens auf dem Mindestlohnniveau, bei Vollzeit also mindestens 1.500 Euro. Da die SGE-Jobs keine regulären Arbeitsplätze verdrängen dürfen, müssten sie erst geschaffen werden und zwar von kommunalen oder landeseigenen Unternehmen, z.B. Wohnungsbauunternehmen. Müller schweben Tätigkeiten vor, bei denen beispielsweise ältere oder mobilitätseingeschränkte Menschen mit Fahr- oder Besuchsdiensten unterstützt werden.

Denkbar wären auch Tätigkeiten in der Flüchtlingshilfe, an Schulen oder bei der Pflege öffentlicher (Grün-)anlagen. Auf diese Weise, so die Idee, würden Pflegekräfte, Sozialarbeiterinnen, Hausmeister etc. entlastet. SGE-Beschäftigte zahlen wie andere Arbeitnehmer auch Sozialabgaben, sie können an Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen teilnehmen. Im besten Fall nutzen sie die SGE-Tätigkeit als Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt.


Wie realistisch ist es, dass das solidarische Grundeinkommen kommt?

Michael Müller will die Idee als „Debattenbeitrag für die Reform von Hartz IV und die Neuordnung des Sozialstaats“ verstanden wissen. Zur Ausgestaltung des Konzepts ist er mit Verbänden, Gewerkschaften und der Bundesregierung im Gespräch. Ein Pilotprojekt u.a. mit etwa 4000 Arbeitsuchenden in Berlin soll zeigen, dass das solidarische Grundeinkommen für Langzeitarbeitslose eine Alternative zu Hartz IV sein kann.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat im Auftrag des Regierenden bereits berechnet, dass sich das SGE finanziell für die Bezieher lohnt – und dass es für den Staat bezahlbar wäre. Dennoch bleiben viele Fragen offen: Woher sollen die 100.000 - 150.000 öffentlich geförderten Stellen kommen? Welche Perspektive bietet der Staat den anderen etwa 700.000 Langzeitarbeitslosen? Machen Jobs als Concierge in einem Wohnungsbauunternehmen oder als Fahrerin für eine Senioreneinrichtung oder als Babysitterin in einer Flüchtlingsunterkunft die Leute fit für die Arbeitswelt4.0? Denn die Digitalisierung ist es doch, die diversen Studien zufolge in Zukunft weitere Jobs überflüssig machen wird.


Das sagen die Kritiker zum solidarischen Grundeinkommen

Wirtschaftsverbände und etliche CDU/CSU-Politiker bezeichneten die Idee als „grotesk“. Sie finden, der boomende Arbeitsmarkt biete auch Langzeitarbeitslosen genügend Chancen. SPD-Genosse Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, befürchtet eine sinnlose Grundsatzdiskussion.

Johannes Vogel, Arbeitsmarkt- und Rentenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion findet, dass die Idee eines solidarischen Grundeinkommens nichts anderes ist als eine Neuauflage der alten (gescheiterten) Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Notwendig seien aber andere Reformen. Der Meinung ist auch der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Er glaubt, dass die Bezahlung der SGE-Kräfte auf Mindestlohnniveau eben nicht zum Leben reicht. Auch mit dem SGE wären viele Bezieher des solidarischen Grundeinkommens auf aufstockendes ALG II angewiesen.


Michael Müller im Industriesalon

Fotos: Anke Assig

Köpenicker zwischen Hoffnung und Skepsis

Hier an diesem Abend in Oberschöneweide, in der Gesellschaft von vielen Genossen (darunter Bezirksbürgermeister Oliver Igel und der Gastgeber der Veranstaltung Lars Düsterhöft) wirkt Michael Müller überzeugt von seiner Idee. Er gibt aber zu: „Wir müssen für vieles erstmal ein Gefühl bekommen. Einiges wird auch politisch nicht gewollt sein. Es wird in einigen Bereichen Gegenwind geben, in anderen wird es besser gehen.“

Trotzdem bleiben etliche Zuhörerinnen und Zuhörer in den Reinbeckhallen skeptisch. „Wenn wir über Visionen reden, dann doch lieber über das bedingungslose Grundeinkommen“ fordert ein Gast. Er findet:

„Wir müssen uns vom Fetisch der Erwerbsarbeit verabschieden“.

Dem stimmt auch Kathrin Schülein zu. Die künstlerische Leiterin des Theaters Adlershof meint: „In Berlin gehen viele (auch diplomierte Künstler) für einen Hungerlohn arbeiten oder beziehen Hartz IV. Für sie und für die unzähligen in der Wissenschaft und anderswo nur befristet Beschäftigten macht das bedingungslose Grundeinkommen so viel mehr Sinn. Es stellt den Wert der Arbeit nicht in Frage. Es gibt den Menschen und ihren kreativen Aktivitäten einen Wert.“
Ein HTW-Student findet: „Das bedingungslose Grundeinkommen sichert ein schnelleres Studium. Ich könnte mich damit schneller selbstständig machen und der Gesellschaft schneller etwas zurückgeben.“

Auch Susanne Reumschüssel vom Industriesalon hadert mit dem SGE-Konzept des Regierenden. Sie hat erlebt, „dass Arbeitslose ganz viel Betreuung brauchen. Uns als Verein hat die Betreuung von ABM-Kräften sehr viel Kraft gekostet. Die Bundesfreiwilligen, die bei uns sind, sind viel motivierter.“ Ob sie das bedingungslose Grundeinkommen favorisiert, sagt sie nicht.


Das Konkurrenzmodell: das bedingungslose Grundeinkommen (BGE)

Das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) sieht vor, dass jeder Mensch unabhängig vom Alter, Einkommen oder Erwerbsstatus eine aus Steuern finanzierte staatliche Zuwendung erhält, die sein Existenzminimum sichert. Und zwar auch dann, wenn er oder sie keine weiteren Einkünfte hätte. Das BGE wird manchmal auch Bürgergeld genannt. Die Befürworter gehen davon aus, dass sich die allermeisten Menschen (auch dann) eine Beschäftigung suchen. Egal, ob sie ehrenamtlich tätig wären oder für ein hohes Entgelt arbeiten – die Existenz jedes einzelnen wäre gesichert. Und zwar, ohne dass der Staat Bedingungen stellt, sanktioniert oder die Menschen in „Maßnahmen“ steckt. Dafür würden dann aber andere Sozialleistungen wegfallen.

Seit Jahren debattieren Parteien und Initiativen in Deutschland und weltweit, ob und wie eine bedingungslose existenzsichernde Grundsicherung wie das BGE finanziert werden könnte. Ob die dafür nötigen Steuergelder von großen Konzernen, Gutverdienern oder auf die eine oder andere Weise von allen Konsumenten einbehalten werden sollten. Experimente dazu laufen derzeit oder demnächst in Finnland, Kenia, Namibia und der Schweiz (deren Einwohner sich 2016 bei einem Volkentscheid zu 78 Prozent gegen das BGE entschieden haben). Die Politik in Deutschland hat es jedenfalls nicht eilig. Eine 2009 per Online-Petition von über 50.000 Unterzeichnern in den Bundestag eingebrachte Petition zur Einführung des BGE wurde zwar 2010 diskutiert, dann aber 2013 ergebnislos beendet.


Das sagen die Kritiker zum bedingungslosen Grundeinkommen

Die Motivation insbesondere im Niedriglohnsektor zu arbeiten, würde massiv sinken und so bestimmte Branchen in Bedrängnis bringen, glauben die einen. Gewerkschafter sehen im BGE zum Teil eine „Stillhalteprämie“. Sie verhindere, dass Jugendliche studieren oder eine Ausbildung machen und dass Menschen für besser bezahlte Jobs weiterqualifiziert würden. Auf diese Weise würden sie von den Chancen ausgeschlossen, die Digitalisierung und Technologiewandel mit sich brächten. Und Schließlich sind da diejenigen, aus deren Sicht BGE wieder nur Gutverdienende begünstige - sie bekämen das BGE, obwohl sie darauf gar nicht angewiesen wären. Alles in allem sind die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und damit auf Preise und die bereits erarbeiteten Rentenansprüche nicht vollends vorhersehbar.


Grundeinkommen per Crowdfunding?

Damit wollen sich die Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens nicht abfinden. Anders als viele Gegner glauben sie eben nicht, dass die Menschen die Hände in den Schoß legen und dann die Volkswirtschaft zusammenbricht. Sie sind überzeugt, dass sich die Menschen dann die (bezahlte oder ehrenamtliche) Arbeit suchen, die sie erfüllt und kreativ und produktiv sein lässt.

Daran glaubt auch Michael Bohmeyer. Seit 2014 sammelt sein Projekt „Mein Grundeinkommen“ per Crowdfunding Geld, um allen registrierten Bewerbern ein Jahr lang 1.000 Euro auszahlen zu können. Ob das ihr Leben verändert hat, erzählen die bisher fast 200 Gewinner auf der Webseite des Vereins. Eine von ihnen ist Charlotte Krafft (Link zum Interview). Im Interview mit dem Maulbeerblatt erzählt die Freiberuflerin, wie das zusätzliche Geld zur Zeit ihr Leben verändert.

Zurück nach Oberschöneweide, zurück zur Infoveranstaltung des Regierenden. Hier sitzen ganz überwiegend Leute, die sich keine Limousine leisten können. Die meisten wissen, wie es Menschen ohne ausreichendes Einkommen geht. Weil sie selbst in dieser Lebenslage waren oder sind – oder aber weil sie als Sozialarbeiter, Politiker oder Nachbar regelmäßig in Kontakt mit ihnen sind. Vielleicht gleitet die Debatte deshalb immer wieder ins Grundsätzliche ab. Es geht um Armut und insbesondere Kinderarmut in Treptow-Köpenick, um Bildungschancen von Heranwachsenden und um die Frage, wie Behinderte aus den Behindertenwerkstätten heraus und in gut bezahlte inklusive Arbeitsverhältnisse kommen können. Alles SPD-Themen. Man könnte sie endlos diskutieren. Doch für diesen Tag ist die Zeit um.

Die Ergebnisse der von der SPD mitverantworteten Agenda 2010 (mitsamt Hartz IV) existieren noch. Das solidarische Grundeinkommen des Michael Müller bleibt vorerst eine Vision. Und das bedingungslose Grundeinkommen auch.


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