Ein Drache mit Bierbauch

Teil III – Biografische Anmerkung zu Wilhelm Bölsche in Friedrichshagen
Wenn auch nicht in den Regalen der Buchhandlungen, so ist Wilhelm Bölsche doch auch heutzutage präsent: Der 1998 zwischen Mars und Jupiter entdeckte Planetoid 17821 ist seit 2001 nach Bölsche benannt; bereits seit dem Jahre 1931 trägt ein Bergrücken in der Nähe seines letzten Wohnortes Oberschreiberhau im Riesengebirge seinen Namen. (Die winzige, unbewohnte Bölscheinsel vor Spitzbergen wurde im Übrigen nach Wilhelms Vater Carl benannt.)
Porträt von Wilhelm Bölsche
Foto: Nicola Perscheid
Wilhelm Bölsche war Mitinitiator der “Freien Hochschule Berlins“, einem Vorläufer der Volkshochschulen, und maßgeblicher Ideengeber der Lebensreform-Bewegung und stand den Ideen des Sozialismus nahe. Außerdem wurde Bölsche Mitglied einer Freireligiösen Gemeinde und des Monistenbundes, einer freidenkerischen Organisation mit naturphilosophischer Weltanschauung, die alle Dinge als Manifestation des Göttlichen ansieht. Bölsche suchte nach den Verbindungen von „Sozialismus und Darvinismus“ und gehörte – wie Gerhart Hauptmann – der am 22. Juni 1905 von dem Mediziner Alfred Ploetz in Berlin gegründeten „Gesellschaft für Rassenhygiene“ an. Einer Vereinigung, die „Rassenhygiene“ als Wissenschaft begründen wollte und die später in der Zeit des Nationalsozialismus durch die Beratung zu rassenpolitischen Maßnahmen erheblichen Einfluss auf wichtige Gesetzesvorhaben nahm, wie dem sogenannten „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ – und damit direkten Anteil nahm an den Verbrechen des Regimes bei den als „Euthanasie“ getarnten Zwangssterilisationen und an den Massenmorden an Kranken und Behinderten.

Doch im Poesiealbum: Schiller, Goethe, Bölsche

Das schriftstellerische Lebenswerk Bölsches ist umfangreich. Etwa fünfzig Bücher und weit mehr als siebenhundert Artikel in Zeitschriften und Zeitungen hat Bölsche publiziert. Der Erfolg Wilhelm Bölsches als Autor populär-naturwissenschaftlicher Schriften war im Kaiserreich und in der Weimarer Republik groß. Kurt Tucholsky stellte 1928 Bölsches Schriften als Grundbestandteil einer Hausbibliothek des Bildungsbürgertums ironisch ins publizistische Bücherregal des untergehenden Bürgertums:
„Heyse, Schiller, Goethe, Bölsche, Thomas Mann, ein altes Poesiealbum …“
Etwas weniger zuneigend fiel das Urteil Rudolf Steiners aus. Der geistige Vater einer spirituellen Weltanschauung, Wortgeber der Anthropophobie, „war nach Berlin gekommen, vielleicht naiverweise, um zu beobachten, wie durch… eine Tribüne… sich Zukunftsideen einleben könnten“. Steiner musste dabei feststellen, dass „bei einigen Menschen, wenigstens solange die materiellen Mittel vorhielten, die das ‚Magazin‘ zur Verfügung hatte, und solange das alte Ansehen, das ich allerdings gründlich untergrub, vorhielt. Aber ich konnte ja naiverweise zusehen, wie sich solche Ideen unter derjenigen Bevölkerung ausbreiteten, spielte ja schließlich in alles ein wenig Bölsche hinein, und ich meine damit natürlich nicht den in Friedrichshagen wohnhaften dicken Bölsche allein, sondern ich meine die ganze Bölscherei, die ja in der Philisterwelt unserer Zeit eine außerordentlich breite Rolle spielt. Schon die ganze saftige Art der Darstellungen des Bölsche ist ja für unsere Zeitgenossen so ganz besonders geeignet.“ Und die „übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung“ des Rudolf Steiners hielt weiterhin zu Bölsche fest: „Nicht wahr, wer Bölsches Aufsätze liest, muß alle Augenblicke irgend etwas von Exkrementen oder dergleichen in die Hand nehmen. So ist sein Stil: Man nehme nur ja recht das und das in die Hand -, und es sind nicht immer bloß Quallen, die man in die Hand zu nehmen hat, wozu er einen einladet, daß man es in die Hand nehmen soll, sondern es ist wahrhaftig noch manches andere, was man da in die Hand zu nehmen hat. Aber diese Bölscherei ist so recht ein Leckerbraten für das in dieser Zeit heraufkommende Philistertum geworden.“

Die Mysterien der Universumspracht

Dagegen bezeugte Berta von Suttner in ihren „Lebenserinnerungen“ ihr besonderes Interesse an Bölsches Schriften: „Damals hatten wir Bölsche entdeckt. Der führte uns in die Hallen der Naturwunder, weihte uns ein in die Mysterien der Universumspracht. Oft geschah es, wenn das Gelesene uns eine neue Offenbarung brachte, daß wir im Lesen innehielten, um einen stummen Händedruck zu tauschen.“ Und Gerhart Hauptmann fasste anlässlich eines Festaktes zu Bölsches 70. Geburtstag die Lebensleistung des Jubilars mit den Worten zusammen: „Siebzig Jahre, zum größten Teil der Arbeit gewidmet, liegen hinter dir. Es war Arbeit für die deutsche und die Menschheitskultur. Scheinlos, treu, ausdauernd hast du in diesem Leben gedient und den Dank deines Volkes in deinem Wirken gefunden. Als ein wahrer, freier und echter Volkslehrer hast du Hunderttausende, ja Millionen von Deutschen, Männer, Frauen aller Stände, jung und alt, belehrt und ihnen das Walten Gottes in der Natur und der Natur in Gott erschlossen.“ Hervorragende Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, insbesondere die deutschen, bekannten sich mit Begeisterung zu Wilhelm Bölsches Werk. Als der Nobelpreisträger für Medizin von 1973, Konrad Lorenz, die „Goldene Wilhelm-Bölsche-Medaille“ der „Kosmos Gesellschaft der Naturfreunde“ entgegennahm, hielt er fest, „… daß ich Wilhelm Bölsche sehr wahrscheinlich mehr verdanke, als irgendein anderer hier im Saale. Sein hohes Lied der Abstammungslehre hat mich im empfänglichsten Alter, etwa zwischen 10 und 12 Jahren, erreicht… Noch wichtiger für meine wissenschaftliche Entwicklung aber ist es wohl gewesen, daß Wilhelm Bölsche, der Homer monistischer Denkungsart, mir schon damals das gefährliche und gerade in unserer deutschen Geisteshaltung so tief verwurzelte Vorurteil ausgetrieben hat, daß eine ursächliche Erklärung dasjenige, was sie verständlich macht, des Wertes beraubt.“ In Altenberg bei Wien hatte Konrad Lorenz die Art und Weise des Lebens der Graugans „Martina“ und ihres Gefolges beschrieben und an ihrem Verhalten den naturwissenschaftlichen Begriff der „Prägung“ formuliert und – auch nach Bölsches Vorbild – literarisch verarbeitet.

Am Ku’damm des Ostens ein Dichter

Nach Bölsches Tod wurde der „Ku‘damm des Ostens“, wie man in Berlin-Friedrichshagen zu DDR-Zeiten und bisweilen bis heute die ehemalige Dorfstraße – von 1871 bis 1947 die Friedrichstraße – nennt, nach ihm benannt. Am 31. Juli 1947 erhielt die heutige „Bölsche“ ihren Namen. Rund 200 Läden, Restaurants und Cafés reihen sich hier dicht an dicht unter den Häuserfassaden verschiedener Epochen. Eine Schule im seit 1920 zur Hauptstadt Berlin gehörenden Stadtteil trägt ebenfalls seinen Namen. Und ein Wanderweg an den Ufern des Müggelsees führt den Touristen heute auf Bölsches Spuren. In Braunschweig und in Dresden, Fallersleben, Hannover, Magdeburg und in Nürnberg gibt es Bölsche-Straßen, in Bremen einen Bölscheweg. Als ein „wissensdurstiger“ Laie schrieb Bölsche für Laien, sprachlich elegant, klar formulierend „sachlich richtige“ Texte, die der Leserschaft die seiner Zeit neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaft verständlich vermittelten. Seine herausragende Sprachqualität und die Gabe, naturwissenschaftliche Phänomene selten eindrücklich für ein großes Publikum zu formulieren, verleihen Bölsche eine herausragende Stellung in der deutschen Literaturgeschichte und bleiben ein literarisches Kleinod bis in unsere Gegenwart.
Cover des Buches „Was ist Natur“ von Wilhelm BölscheWas ist die Natur? von Wilhelm Bölsche mit einer Einführung von Dr. Gerd-Hermann Susen und einer biografischen Anmerkung von Marcel Piethe „Niemand wider die Natur, keiner über die Natur, denn die Natur! Ist nicht dieser Mensch, der mit seiner Wissenschaft und Technik am tiefsten in das Herz der Natur wie ein Beutejäger einzudringen scheint, der mit seiner Technik diese Natur endlich zu unterjochen scheint, dass sie ihm wie ein gebändigter Riese dienen muss – ist dieser Mensch contra Naturam nicht eben die gewaltigste, die tiefste Äußerung und Betätigung dieser Natura ipsa, die uns gegeben ist?“ In dieser literarischen Wiederentdeckung aus dem Jahre 1906 ergründet Wilhelm Bölsche die Wechselbeziehung zwischen Mensch, Natur und Kultur. Mehr denn je stellt sich heute die Frage, ob wir uns der Natur fügen werden und im „Ewigkeitsprozess des sieghaft Harmonischen“ bestehen bleiben. Den zweiten Teil der Serie „Biografische Anmerkung zu Wilhelm Bölsche in Friedrichshagen“ gibt es hier.
 

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