Die Kunst des Vergessens

„Früher war alles besser“,

heißt es unter älteren Erwachsenen oft, wenn wieder ein neues Gesetz kontrovers diskutiert oder auf irgendeine andere Art etwas Bekanntes und Bewährtes durch etwas vermeintlich weniger Sinnvolles ersetzt wird. Als Kind oder junger Mensch kann man in solchen Fällen nicht viel zum Gespräch beitragen, da dieses „früher“, von dem alle reden, zumeist in einer Zeit angesiedelt ist, in der es uns noch nicht einmal gab. Das macht es auch so schwierig, möchte man nicht nur wie ein Schwamm die vorgetragenen Geschichten unreflektiert aufsaugen, sondern kritisch hinterfragen. Als Totschlagargument bekommt man dann vom allzu eifrigen Nostalgiker gern ein schnoddriges „Warst du etwa dabei?“ serviert. Darum bleibt uns U30ern für gewöhnlich nichts anderes übrig, als in heimeliger Kaffeeklatsch-Atmosphäre Opas Eloge auf die Pünktlichkeit der Deutschen Reichsbahn nach dem Zweiten Weltkrieg oder wahlweise Großmutters Brandrede gegen die im Vergleich zu damals katastrophal abschneidende Sozialpolitik von heute zu lauschen und aufmerksam zu nicken, wenn „Kaum zu glauben, oder?“ gefragt wird. Mag sein, dass darin viel Wahrheit steckt. Für eben jene, die das Ganze nicht mitgemacht haben, ist die Wirkung dennoch eine fatale. In unseren Köpfen lässt der verbal manifestierte Mythos „früher war alles besser“ blühende Wiesen entstehen, auf denen die Menschen nackt und zufrieden um die Wette tanzten. Schließlich war seinerzeit das Gras grüner, der Himmel blauer und das Brot schmackhafter. Wer heutzutage von sich selbst sagen kann, er wäre rundum glücklich, kommt dann schnell in die Bredouille: Wenn ich so schon mit meinem Leben zufrieden bin, wie fröhlich wäre ich dann vielleicht erst früher gewesen? Dabei hat die Wissenschaft längst eine Erklärung für die blumige Vergangenheitswahrnehmung gefunden: Der Mensch neigt dazu, negative Erlebnisse mit der Zeit zu vergessen und stattdessen das Positive hervorzuheben. Schon Sigmund Freud hatte dies 1914 mit seinem Prinzip der Verdrängung erkannt. Darum denkt man bei der Fußball-WM 2014 zuallererst an den überwältigenden Triumph und die Emotionen nach dem Finalsieg und nicht daran, dass es auf dem Weg dahin genügend Momente gab, in denen man gar nicht hinsehen konnte. Ähnlich dramatisch laufen sonst nur Geburten ab, die (mit etwas Abstand betrachtet) im Nachhinein auch weitaus weniger schlimm erscheinen. Man will sich gar nicht die die Zahl der Neugeborenen vorstellen, wäre dies nicht so. Früher war also genau genommen alles besser, weil wir rückblickend nur noch eine Seite der Medaille genauer betrachten und lediglich Licht ohne Schatten sehen. Wenn ich mir meine Kindheit ins Gedächtnis rufe, fallen mir als erstes auch nur sorgenfreie Nachmittage auf dem Fahrrad ein. Zu den absoluten Highlights gehörte es dann, wenn plötzlich die Klingel des Eismanns ertönte. Die moderne Variante des Rattenfängers von Hameln fuhr durch unser kleines Städtchen und scharte an jeder Ecke ein paar Kinder mehr um sich, bis die Masse zu einer großen Traube angewachsen war. Manche wollten überhaupt kein Eis kaufen, wussten aber, dass dort garantiert Freunde zu finden sind. Ohne Smartphones, Facebook und Co. war das eine der wenigen Möglichkeiten spontan Leute zu treffen. Wer Lust auf eine Kugel Eis hatte, konnte aus der Gelato-Dreifaltigkeit wählen: Erdbeere, Schokolade oder Vanille. Gehe ich heute in eine Eisdiele, kann ich zwischen Pitahaja-Granatapfel, Litchie-Sauerrahm und Orange-Maracuja mit Pfirsich-Topping wählen. Früher war bestimmt nicht alles besser, aber manches dafür einfacher. Musik-Tipp: Foreigner – Cold As Ice Mit den Singles „Feels Like the First Time“ und „Cold As Ice“ konnte die Rockband Foreigner ihr gleichnamiges Debütalbum 1977 erfolgreich in den Charts platzieren – der Beginn einer großen Karriere, die nach unzähligen Mitgliederwechseln inzwischen aber an ihrem eigenen Denkmal sägt. Film-Tipp: Fargo – Blutiger Schnee Ein Autoverkäufer hat finanzielle Sorgen und will diese mit der fingierten Entführung seiner Frau und einer Lösegeldforderung an seinen Schwiegervater aus der Welt schaffen. Doch nicht nur die für die Tat angeheuerten Ganoven handeln bald alles andere als geplant. Buch-Tipp: George R. R. Martin – Das Lied von Eis und Feuer Eine gängige Fan-Beschreibung für Martins Fantasy-Epos lautet „Der Herr der Ringe“ mit mehr Sex. Tatsächlich wird diese dem aber nicht gerecht: Zu umfassend ist die auch als Serie bekannt gewordene Geschichte vom Spiel der Throne.

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