Mit Ende 40 können Sie auf einen langen wechselvollen politischen Lebensweg zurückschauen, wie wurden Sie, wer Sie sind?
Ich bin sehr früh den Jusos beigetreten, komme aus einem Elternhaus, das über Generationen sozialdemokratisch war. Drei Leitsprüche meines Vaters haben mich geprägt: 1. „Es gibt kein Vaterland, denn dein Vater hat kein Land. Wir wohnen zur Miete.“ 2. „Uwe, du musst nach oben treten und nach unten buckeln.“ 3. „Wenn dich zu viele loben, die reich und gut verankert sind, dann hast du irgendetwas falsch gemacht!“
Wie würden Sie die deutsche Gesellschaft im Jahre 2012 beschreiben?
Ich würde sie als teilweise rückwärtsgewandt beschreiben. Viele Errungenschaften, die in den 70er Jahren normal gewesen waren – so ein sozialer Abgleich für große Teile der Bevölkerung – sind in Frage gestellt. Im Jahre 2012 ist zudem feststellbar, dass es für viele Menschen normal geworden ist, dass Deutschland Krieg führt. Und auch, obwohl der Sozialabbau immer mehr zunimmt, es leider nicht zu einer Solidarisierung innerhalb der verschiedenen betroffenen Gruppen kommt. Es hat den Anschein, dass sich ein neoliberales Gesellschaftsmodell leider in fast allen Bereichen durchsetzt.
Sie sind politisch sehr engagiert, wie setzen Sie dabei die Schwerpunkte, für das, was Sie tun?
Ich bin sehr intensiv unterwegs bei allem, was mit Umweltschutz zu tun hat. So haben wir Naturfreunde gegen den Flughafen Klage eingereicht. Wir kämpfen darum, eine andere Verkehrspolitik durchzusetzen. Wir hoffen, den BER-Standort noch zu Fall zu bringen und damit diesen Größenwahnsinn, den Berlin in der Verkehrspolitik hat – ich erinnere auch an die A100 – ein Stückchen ausbremsen zu können. Zum Zweiten bin ich sehr aktiv in der Friedensbewegung. Aktuell geht es darum, Themen wie die Militärschau auf der ILA, die zunehmende Durchdringung der Schulen mit Militärbesuchen – den sogenannten Jugendoffizieren – aber auch die allgemeine Kriegsvorbereitung, die Deutschland beispielsweise in Afghanistan trifft, kritisch zu hinterfragen. Darüber hinaus engagiere ich mich in der antirassistischen Bewegung und bemühe mich darum, dass die Menschen, die überhaupt keine Stimme haben – Migrantinnen, Asylbewerber, die im Abschiebknast auf dem BER eingesperrt werden sollen – Gehör in der Öffentlichkeit finden.
Welche Rolle spielen die Medien in der politischen Willensbildung?
Die Bedeutung der Medien hat sich in den letzten 15 Jahren deutlich verändert. Das Internet ermöglicht eine Massivität an Informationen und alle, die sich über Blogs oder andere Formen – Social-Media-Bereiche wie Facebook – intensiv einbringen wollen, können Meinungen mitbestimmen und auch verändern. Allerdings werden heute zum Teil singuläre Ereignisse – z. B. ein Mensch mit muslimischen Hintergrund begeht eine Straftat – in einer ganzen Reihe von Medien hochgefahren und sofort wird dann eine Debatte über den Islam in Deutschland geführt und antiislamische und ausländerfeindliche Ressentiments damit wieder verstärkt. Medien haben da eine gewaltige Verantwortung und die Aufgabe von außerparlamentarischer Bewegung ist es, dem etwas entgegenzusetzen.
Empfinden Sie unsere großen Leitmedien als frei und tatsächlich unabhängig?
Solange alle Leitmedien davon leben, dass Unternehmen Anzeigen aufgeben, wäre es vermessen, davon zu sprechen, dass sie unabhängig sind. Wir erleben, dass ein Wochenmagazin wie der Spiegel heute immer noch gegen die Energiewende, gegen Windenergie, anschreibt. Und wer sich mal die Hauptsponsoren anschaut, kann auch verstehen, warum das so ist. Es gibt keine unabhängigen Medien, wie es in der heutigen Gesellschaft auch keine unabhängige Meinung gibt. Meinung wird von unterschiedlichen Interessengruppen gebildet. Ganz altmodisch hat man das mal so genannt: Die Herrschenden machen die Meinung. Und leider sind die Beherrschten nur selten in der Lage, dieses Meinungsmonopol zu brechen.
Wie definieren Sie eine angemessene Rolle Deutschlands innerhalb der Europäischen Union?
Es wäre wünschenswert, wenn eine der stärksten Ökonomien der EU sich darum kümmern würde, dass sozialer Ausgleich organisiert wird, dass sich eine friedfertige Europäische Union entwickelt, die nicht eine der aggressivsten Außenpolitiken aller entwickelten marktwirtschaftlichen Gesellschaften fährt. Eine angemessene Rolle wäre natürlich, wenn Deutschland sich darum kümmern würde, dass gerade die schwächeren und kleineren Mitgliedsstaaten eine Rolle in dieser Gemeinschaft spielen könnten. Wer sich die Entwicklung der jetzigen Finanz- und Wirtschaftskrise anschaut, wird feststellen, Deutschland hat die EU maßgeblich mit Frankreich, den Niederlanden und den starken Staaten in den letzten 15 Jahren brutal umgestaltet. Der Vertrag von Lissabon ist das Ergebnis davon, dass wir vor allem unsere Exportinteressen durchsetzen konnten. Deutschland spielt eine sehr negative Rolle im Rahmen der Europäischen Union und ist einer der Hauptverursacher der Krise, die gerade Griechenland zu Boden wirft.
Als Exportweltmeister geben wir unseren Nachbarn gute Ratschläge, wie sie sich zur Rettung unserer Banken aus der Krise sparen können. Auf wessen Rat hören wir, wenn die Krise uns erreicht?
Sie hat uns längst erreicht, nur dass wir die Krise zum Teil auf andere abwälzen konnten. Deutschland ist das EU-Land, welches seit über 20 Jahren die niedrigsten Lohnsteigerungen hat. Deutschland ist das Land, in dem sich die Einkommensverteilung am weitesten auseinander entwickelt hat. Deutschland hat noch den Vorteil, dass es intensiv exportieren kann. Dies hat es sich mit dem größten Niedriglohnsektor aller EU-Staaten erkauft. Deswegen bin ich der Meinung, Deutschland steckt seit 20 Jahren in der Krise. Eine fortschrittliche Politik müsste darin bestehen, den Niedriglohnsektor zu verbieten, die Binnenkaufkraft zu stärken und nicht zuzulassen, dass hier auf der Friedrichstraße ein Geschäft nach dem andern aufmacht, in dem Prada-Klamotten für 14.000 € verkauft werden, solange daneben Leute sitzen, die um Geld betteln und in Mülleimern nach Flaschen suchen müssen. Dieses Land ist in der Krise und immer mehr Menschen können in diesem Land nicht mehr menschenwürdig leben.
Jeder 5. Berliner lebt an der Armutsgrenze, wie lange ist das noch sexy und wie lange lassen sich die Menschen noch mit Castingshows bei Laune halten?
Ich befürchte, dass die Menschen sich noch lange nicht wehren. Ein Teil des neoliberalen gesellschaftlichen Umbaus bestand unter anderem darin, die Entsolidarisierung der Gesellschaft voranzutreiben. Durch das Zusammenschlagen der sozialen Sicherungssysteme können Menschen nicht mehr ohne Weiteres Widerstand leisten. Wenn ich einen Job habe, der unbefristet ist, kann ich um mein Recht kämpfen, kann ich zu meinem Chef gehen und sagen, ich bin nicht einverstanden, mit dem was du tust. Wenn ich als Leiharbeitnehmer in einer Firma arbeite und weiß, mein Vertrag läuft in vier Monaten aus, werde ich meine Rechte wesentlich mehr zurücknehmen, um nicht arbeitslos zu werden. Viele dieser Menschen haben heute ein Jobcenter am Hals, das sie menschenunwürdig behandelt und sie teilweise alle 14 Tage einbestellt oder mit vollkommen unsinnigen 1-Euro-Jobs versorgt. Diese Menschen haben so viel mit Behörden zu tun – ihr Widerstand wird damit bewusst gebrochen. Der Neoliberalismus hat Helmut Kohls geistig moralische Wende vollzogen. Heute bekommt man bereits im Kindergartenalter beigebracht: Jeder muss sich um sich selbst kümmern, ist seines Glückes Schmied – das Beste, was der Mensch bekommen hat, ist sein Ellenbogen, um sich durchzusetzen.
Kennen Sie einen Wutbürger?
Nein! Ich kenne viele Menschen, die sich gegen Dinge, die sie für falsch halten, wehren. Die würde ich als Bürger bezeichnen. Nur ein Mensch, der sich wehrt, ist ein Bürger. Ein Mensch, der sich nicht wehrt, ist ein Untertan. Der Begriff Wutbürger ist eine Erfindung der herrschenden Politik, um Menschen, die Normalitäten einfordern, mit einem Begriff zu diffamieren. Die Menschen in Stuttgart sind doch nicht aus Wut auf die Straße gegangen, sondern weil die Politik Milliarden in einen Bahnhof vergraben will, die tausendmal sinnvoller in den Ausbau der Bahn in der Fläche, im Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs eingesetzt werden könnten. Ich kenne Wutpolitiker, die erlebe ich in den letzten dreißig Jahren meines Lebens, aber einen Wutbürger kenn ich nicht.
Bei großen Infrastrukturprojekten sieht sich der Bürger ab einem bestimmten Punkt immer öfter staatlich organisiertem Betrug gegenüber. Ist der mündige Bürger längst eine Gefahr für unsere Demokratie?
Eigentlich wäre der mündige Bürger natürlich der Inbegriff der Demokratie. Wir haben heute jedoch eine überschwappende Bürokratie, wir haben de facto eine bestimmende Funktion von Parteien und Parlamenten, jedoch haben wir nicht eine partizipatorische Ausrichtung des gesamten gesellschaftlichen Systems, weswegen natürlich der mündige Bürger da stört. Ich denke, jeder, der sich in einer Bürgerinitiative engagiert, egal ob es die BI's im Südosten gegen den Flughafen sind, egal ob es diejenigen sind, die gegen den Wahnsinn der A100 kämpfen oder es einfach Menschen sind, die sagen, ich bin nicht einverstanden, dass es zu wenig Kindergartenplätze gibt oder unbezahlbare Mieten – das sind mündige Bürger, die Demokratie pflegen. Diejenigen, die in den Parlamenten und Regierungen jene Bürger für eine Gefahr halten, sind es hingegen in Wirklichkeit, welche die Demokratie in Frage stellen.
Täglich tauchen neue Akten bei Polizei und Geheimdiensten auf, falls sie nicht bereits geschreddert wurden. Welche Tiefe der Verstrickung staatlicher Stellen in den NSU-Terror halten Sie am heutigen Tage für vorstellbar?
Ich habe immer schon eine tiefe Verstrickung staatlicher Stellen vor unterschiedlichsten Hintergründen für möglich gehalten. Wenn man heute aus offiziellen Quellen lesen kann, dass die ersten Waffen, die der RAF gegeben wurden, von einem V-Mann des Verfassungsschutzes kamen, wird relativ schnell deutlich, dass es einen Teil des staatlichen Apparates gab, der eine bewusste Kriminalisierung linker Strömungen betrieb. Es scheint auf der anderen Seite einen Teil zu geben, der mit Rassisten und Nazis scheinbar sympathisiert oder sie für eigene Zwecke für notwendig hält. Bei vielen Meldungen, die ich in den Zeitungen lese, ist meine erste Frage: Wem nutzt das? Und wenn ich das beantworten kann, lässt sich so manches einfacher einordnen.
Kommen wir auf etwas Lustiges zu sprechen: Wann wird der BER eröffnet?
Ich habe mir vorgenommen, zu meinem Renteneintritt, den ich ja leider erst mit 67 haben werde, auf dem BER-Gelände genauso angenehm spazieren zu gehen, wie schon heute auf dem Flugfeld Tempelhof.
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