Nun sagt der Verkaufspreis eines Gemäldes nicht immer etwas über seinen tatsächlichen kunsthistorischen Wert aus. Die Botschaft an dieser Stelle soll auch vielmehr lauten: „Gute“ Kunst entsteht nicht nur in Hörsälen und ist mitnichten nur eine Frage vom richtigen Einsatz bestimmter Techniken. Gerade in der Kunst funktioniert die Logik auch umgekehrt, nur die eigene künstlerische Vision ist Maßstab, sie allein bestimmt Technik und Ausdruck. „Kunst kann nur so entstehen, wie es für den oder die Künstler*in stimmig ist“, sagt Street-Art-Künstler Michel Cren Pietsch.
Selten hat eine Kunstrichtung den etablierten Kunstmarkt so aufgemischt, wie die Urban-Art- und Graffiti-Kunst, die zwar weltweit in den Murales historische Vorbilder hatte und in den 80-er Jahren dann so richtig von der us-amerikanischen Subkultur der Afroamerikaner nach Europa überschwappte. Und deren Undercover-Künstler eher selten mit dem klassischen Pinsel oder Stift unterwegs sind, sondern vielmehr mit Spraydosen auf Mauern, unter Brücken, auf Stromkästen, an Zügen, Laternen und Hauswänden ihren Werken im öffentlichen Raum eine nie gesehene Grafik und ein neues Bildformat verpassen. All das geschah die ersten Jahre selbstredend ausschließlich nachts und anonym, bzw. unter Verwendung eines Pseudonyms, denn diese Kunstform ist oft politisch und war lange verboten…
Der deutsch-französische Künstler Michel „Cren“ Pietsch (Jahrgang 1970) stieß mit 19 Jahren auf die Graffiti-Szene in seinem Wohnort Hannover. Zur Fussball-Weltmeisterschaft 2006 bemalte er im Rahmen eines Culture-Crossing-Projekts bis zu 6 x 70-Meter-Wände. Es folgten Trabis, Holzplatten, Auftragsarbeiten in Privaträumen -- im Prinzip wurde alles bemalt. Unablässig bewegte sich der Künstler zwischen Subkultur und etablierter Kunstrezeption bzw. -vermarktung.
Er sprüht nicht mehr ausschließlich im Freien, sondern inzwischen auch Leinwände, aber immer noch gehören für den heutigen Wahlberliner die Spraydosen zum Equipment. „Cren“, wie sein Künstlername und „Tag“ (gesprochen „Täg“, das englische Wort für Etikett) im Sprayerjargon lautet, hat den Sprung in die Galerien geschafft. Viele seiner Bilder zeigen großflächig angelegte Muster und Farbflächen, die ihre Herkunft aus der Streetart offenbaren. Sie scheinen aber auch kandinskyverwandte, konstruktivistisch-abstrakte Elemente mit den wilden, unorthodoxen Tropfen und Klecksen der Street Art zu einer neuartigen Gesamtkomposition zu vereinen. Manchmal erinnern „Crens“ Grafiken sogar an die kalligrafisch angeordneten Werke in der orientalisch-islamischen Kunst, denn seine Motive sind in der Regel eine grafische Verarbeitung seines Tags „Cren“.
Michel „Cren“ Pietsch ist deutschlandweit und international mit der Sprayerszene verbunden. In Berlin war er unter anderem an dem Kunstprojekt „The Haus“ beteiligt, das 2017 rund 80.000 kunstinteressierte Gäste aus aller Welt anzog, 2018 am legendären Projekt „Holzmarkt 25“, 2019 folgte er einer Einladung der Deutschen Botschaft in Riad (Saudi-Arabien) zu den German Cultural Days. Der Künstler mit der doppelten Staatsbürgerschaft pendelt regelmäßig zwischen Frankreich und Deutschland hin und her und ist auch immer noch in der Pariser Szene verhaftet, dort, wo seine Bilder vor rund 10 Jahren plötzlich aus dem Underground im Grand Palais landeten.
Damals arbeitete er gerade mit „Terrible T Kid 170“, dem berühmten Sprayer aus der Bronx zusammen, der dann für sich selbst und Cren auch den Rutsch ins Grand Palais initiierte. Für die meisten bildenden Künstler läge eine Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen an ein und demselben Werk völlig außerhalb des Vorstellbaren, doch diese Arbeitsform gehört zu „Crens“ künstlerischen Besonderheiten und einige seiner Werke sind als Gemeinschaftsarbeit mit einem anderen Künstler entstanden. So auch mit dem Berliner Rapper, Song- und Graffiti-Writer „Akte One“, der seine Werke nunmehr ebenfalls auf indoor-geeignete Leinwände abbildet. Mit „Akte One“ verbindet „Cren“ nicht nur die künstlerische Verwandtschaft, sondern auch eine tiefe Freundschaft.
Beziehungsstatus Markt und Street-Art-Künstler: Es ist kompliziert.
Die Logik der Kunstwelt ist und bleibt unergründlich. Obwohl Street-Art und Graffitikunst seit über 40 Jahren von der Kunstwelt geradezu gehyped wird, bleibt die Wahrnehmung autodidaktisch geschulter Street-Art-Künstler eher ambivalent bis schizophren. Einerseits lechzt man genau nach diesen neuen, anarchisch strukturierten Farb – und Formenexplosionen, ist Street-Art nun auch an Kunsthochschulen anzutreffen, andererseits zeigt man sich abwartend, um nicht zu sagen abwertend. „Im Gegensatz zu Deutschland hat Street-Art in Frankreich beispielsweise einen anerkannten Stellenwert“, sagt „Cren“ alias Michel Pietsch, dessen Exponate auf Leinwand ab dem 5. Juni 2020 drei Wochen lang in der Galerie Schöneweide ausgestellt werden.
Und noch ein Zahlenbeispiel aus dem internationalen Kunstgeschäft, an das sich die Kunstmetropole Berlin doch so gerne anschließen möchte: Ein Gemälde des autodidaktischen Street-Art-Genies Jean Michel Basquiat wurde 2017 für 110,5 Millionen Dollar nach Japan versteigert. Wie viele japanische Touristen das architektonisch und industriegeschichtlich hochinteressante Gelände der Rathenau- und Reinbeckhallen auf dem ehemaligen AEG-Gelände schon entdecken konnten, ist im Moment schwer auszumachen. Aber die Galerie Schöneweide in der Wilhelminenhofstraße liegt in direkter Nachbarschaft zu diesem spannenden Areal am Spreeknick, das schon lange mit verschiedenen hochkarätigen Kunstevents aufwartet.
Auch „Cren“ hat eines seiner Ateliers auf diesem Gelände im Atelierhaus 79, sprüht Farben und generiert viel Lebenslust. Crossover versteht sich, also nicht ausschließlich zu Hip-Hop, sondern auch zu Punk-, Rock- oder Raggaemusic. Die Vernissage ist eine gute Gelegenheit, mit ihm ins Gespräch und Geschäft zu kommen. Wie bereichernd und für wen, liegt in der Zukunft, sicher ist: Auch Millionäre sind willkommen.
„New Breed 2.020“, UrbanArt-Kalligraphie-PopArt
Künstler: Michel „Cren“ Pietsch
05.Juni - 26. Juni 2020www.galerie-schoene-weide.de
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