Wenn die heimarbeitenden Eltern Kontrollbesuche im Kinderzimmer machen, befindet sich das Kind verdächtig oft gerade in einer „kurze Pause“. Was nicht heißt, dass es nichts lernt. Oh nein! Langeweile ist wirklich eine wunderbare Lehrmeisterin. Leider ist ihr pädagogisches Konzept selten mit uns Eltern abgesprochen. Wenn wir nicht aufpassen, verwandelt sich die Küche ruckzuck in ein Labor. Es ist ja auch alles da, was man für chemische und physikalische Experimente braucht: Backpulver, Speisestärke, Spüli, Essig und Lebensmittel in allen Varianten, außerdem Glycerin (in der Apotheke erworben, soll Weihnachtsbäume länger frisch halten).
Nach spätestens 20 Minuten versinkt die Küche im Chaos, die Nerven der erziehungsberechtigen Ersatzlehrkräfte liegen blank („Schatz, kannst du dich bitte kümmern, ich bin gerade in einer Videokonferenz!“). Dafür sind aber auch alle schlauer als vorher. Also das Kind ist klüger. Die Eltern haben ihr brachliegendes naturwissenschaftliches Schulwissen wieder aufgefrischt. Aus Wasser, Zitronensaft und sehr viel Salz lässt sich zum Beispiel eine gesättigte Lösung herstellen.
Die Mischung eignet sich aber auch als 1A-Brechmittel. Ich hab´s probiert. Ich könnte hier und jetzt verraten, was passiert, wenn man Kaffeebohnen in Orangensaft einlegt und mit Tiefkühl-Schnittlauchröllchen und Chillipulver vermengt. Mache ich aber nicht. Probieren Sie es mit Ihren Kindern selber aus! Probieren Sie überhaupt alles aus, was Sie als Kind nicht durften: Produzieren Sie verschiedenfarbige Knete oder Schleim mit Glitzer. Züchten Sie Urzeitkrebse oder Schmetterlinge. Stellen Sie Flummis her. Bauen Sie kleine Heißluftballons oder erzeugen Sie mit Hilfe von Zitronen Strom. Achtung, Haftungshinweis: Kinder haften für ihre Eltern. Die stellen sich bei der Suche nach den hippesten Webtutorials manchmal an wie die Neandertaler.
Immer öfter entsteht bei den Versuchen unserer Tochter mit Lebensmitteln auch Essbares.Das reicht von überbackenen Broten mit Tomatenmark-Deko bis hin zu 3-Gänge-Menüs aus Salat, Pasta mit Soße und Himbeerquark. Die Lernkurve ist steil, auch dank der Videos, die sich das Mädchen jenseits der erlaubten Bildschirmzeit reinzieht. Aber besser Howtos über Cranberry-Muffins als Clash of Clans…. Neulich zwang uns das Kind am Wochenende, bis 10 Uhr im Bett zu bleiben. „Ihr dürft nicht in die Küche kommen, sonst versaut ihr euch safe die Überraschung!“. Wir hatten Angst, denn „Überraschungen“ sind meist klebrig und nur sehr schwer von Oberflächen zu entfernen. Unter Zuhilfenahme wirklich aller Töpfe und Pfannen hatte die ganz und gar nicht mehr so kleine Küchenfee ein Frühstück vom Allerfeinsten gezaubert: American Pancakes, Tomate-Mozzarella-Salat, Rührei mit Kräutern, Obstsalat, Smoothie, Latte Macchiato. Herrlich! Wenn das die Ernährungskundelehrerin hätte sehen könnte… Friede, Freude, Eierkuchen im Lockdown? Natürlich nicht! Weil Mutter, Vater und Kind fehlende Freizeitaktivitäten mit Kochen, Backen und Essen kompensieren, haben sich bei allen ein paar Pandemiepölsterchen auf den Hüften angesammelt. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sich die Familie zu gemeinsamen energieverbrauchenden Aktivitäten aufraffen könnte. Doch nicht jeder Erwachsene möchte nach 10-stündiger Bildschirmarbeit noch Eltern-Kind-Fitnesstraining via Zoom mitmachen. Und leider stehen Zehnjährige so gar nicht auf Joggen, Eisbaden und Yoga (Mutter) oder auf Liegestütze, Hanteltraining und 10-km-Wanderungen (Vater). Warum bewegen, wenn man im Liegen Hörspiele ohne Ende hören kann (Kind)? Aber Krisen machen ja erfinderisch. Wer Küchengeräte oder mobile Endgeräte nutzen möchte, muss bei uns ab sofort den Strom dafür auf dem Stepper erzeugen. Das wäre zumindestens ein Experiment wert. Wie dem auch sei, wir betrachten alles, was geschieht, weiterhin als Live-Experiment. Was sonst sollte das Leben auch sein?