Leben und Werk der Fotografin Helga Paris

Die Meisterin der poetischen Tristesse feierte ihren 80. Geburtstag.
Schau ins Land. Die Fotografin Helga Paris. Teil II
Die Fotografin Helga Paris sitzende auf dem Fußboden
Foto: ullsteinbild
Ost-Berlin, November 1989. Wendezeit. Helga Paris gewährt Einblick in ihr Leben, ihren Alltag, ihr Zuhause. Für eine Reportage öffnet die Fotografin ihre Wohnung, entschuldigt die Unordnung: „Ich räume auf.“ Im Flur türmen sich aussortierte alte Kleider; im Wohnzimmer stapelweise Bücher auf dem Boden. Tische und Regale quellen über: Zeitungen, Papiere, Resolutionen. Daneben die Verfassung der DDR. Helga Paris hält sie in der Hand. Lächelt. Früher hat sie sich dafür nicht interessiert, weil es ehedem ohne gute Folgen geblieben wäre, auf den Verfassungstext zu verweisen. Aber jetzt, wo alles in Bewegung sei, ist es wichtig, ihn genau zu kennen. Jeden Tag anderthalb Stunden Zeitungslektüre. Ein eben erschienenes Buch mit Fotografien, das auch Bilder von ihr enthält, bleibt verpackt auf dem Tisch liegen. Der Titel des Buches: Schau ins Land. Wenige Tage ist es her, da habe sie aus dem Fernsehen erfahren, dass ihre Fotos nun doch in Halle gezeigt werden sollen. Triumphgefühl gibt ihr das nicht. So sehr habe sie auf Veränderungen gewartet. Ihre Bilder haben doch berichtet von all der Erstarrung im Land: „Es ist beschämend, daß man es auch zugelassen hat. Man schämt sich so für diese Zeit – auch vor den Kindern. Es ging hier nicht um Leben und Tod, sondern um ein bißchen bequemer zu leben oder weniger bequem“. Mit Blick auf die Zukunft sagt sie: „Ich will mich nicht mehr schämen müssen.“

Im Sande verlaufen

Und doch beginnt für Helga Paris mit der Öffnung der Mauer eine Phase verminderter fotografischer Leidenschaft: Projekte, die sie beginnt, verlaufen im Sande. Resultate ihrer Arbeit empfindet sie zunehmend als unbefriedigend. In den neuen Umständen muss sie, wie viele andere auch, sich selbst und den Sinn des eigenen Tuns neu entdecken. In diese Zeit fällt ihre erste Zusammenarbeit mit der Filmemacherin Helke Misselwitz. Draußen im Land, in Dörfern entlang der Oder, fotografiert Paris am Set. „Ihre Anwesenheit an den Drehorten, ihr präziser und zärtlicher Blick auf die Anwesenden, Schauspieler und jegliche Mitarbeiter, wirkte beruhigend“, hat Helke Misselwitz berichtet. Die Würde, die ihr fotografischer Blick jedem, ob Ding oder Mensch, zu geben vermag, wies schon früher weit über die Ideologie des Staats hinaus, in dem sie lebte und in dem die meisten ihrer Fotografien entstanden. In den Mühen des Alltags der DDR suchte sie Schönheit. Und wurde fündig bei Leuten, die abseits des Staatsapparats ihre Individualität bewahrten. Poetische Tristesse ostdeutscher Stadtlandschaften fing Helga Paris ein, ihre Bilder erzählten von einem Leben, das nun vorbei zu sein schien, sich in Nachklängen entfernte.

Drogendealer und Stricher, will sie fotografieren…

Etwas Vornehmes hat Helga Paris. Etwas, das freundlich entgegenkommend wirkt – und doch Distanz zu halten weiß. Immer wieder Menschen vor der Kamera: in Siebenbürgen, Georgien, Polen und Rom. Am berüchtigten römischen Bahnhof Termini steckt Helga Paris ihre Kamera in eine Leinentasche und mischt sich unter Drogendealer und Stricher, will sie fotografieren. „Ich kannte sie ja alle, diese Gesichter, hatte sie ja alle schon gesehen“ – bei Giotto und in Fellini-Filmen. Die großen Negative der Bilder erfassen noch die Poren der Lederjacken. „Serio“, ernst, sagte sie zu den Männern, an die sie mit ihrer Kamera trat; ernst, das einzige italienische Wort, das sie kannte – einen vergänglichen Augenblick, scheinbar beiläufig, bestürzend offen, ungeschützt – und von den Bildern blickten Ikonen. „Wenn man sich nicht kräftig fühlt, braucht man gar nicht erst anzufangen“, sagte Helga Paris einmal über ihre Arbeit. Als sie in den 1980er Jahren nach New York reisen durfte, wusste sie, sich „dem Schlimmen dort auszusetzen, halte ich nicht aus“. In Harlem, in der Bronx habe sie nicht fotografieren können – jedenfalls nicht auf der Straße. Bilder entstehen dort nur im geschützten Raum einer Schule. Ihre Kamera hat sie wie ein Notizbuch benutzt, „ohne Anspruch auf vollendete Photographie.“

Fotografieren ist eine Haltung

Im Jahr 2008 legt Helga Paris die Kamera aus der Hand. „Berlin, Halle, New York sind die Städte, die mich in große Aufregung versetzt haben … Ich habe mich anfangs vorsichtig vorgetastet und hauptsächlich in der Nachbarschaft fotografiert. In meiner Gegend, Prenzlauer Berg, wo ich jetzt schon 51 Jahre im selben Haus wohne … Für die Fotos, für die ich bekannt wurde, habe ich eigentlich kein Geld verdient. Das ist alles meine Zuneigung und mein soziales Interesse gewesen, ich wollte das für später dokumentieren. Mein Geld habe ich damals mit Reproduktionen, Schallplatten und Künstlerporträts verdient. Ich war nie abgesichert, aber immer frei und das war mir das Wichtigste.“ Fotografieren ist eine Haltung, hat Helga Paris einmal gesagt. Aber „authentisch zu fotografieren ist heute schwieriger geworden“, resümiert sie, vielleicht weil sich die Menschen heute ihres Bildes bewusster sind? Vielleicht. „Je mehr die fotografische Technik und die Wirklichkeit auseinander driften, desto weniger kennen sich die Menschen wieder. Die kennen von sich nur die Farb-, Blitz- und Keep-Smiling-Bilder. Für mich muss keiner lächeln. Warum auch?“ Für die Fotografin Helga Paris wird die Hemmschwelle größer, Menschen anzusprechen.
„Das Räuberische wird immer deutlicher“, sagt sie.

…eine lose Gruppierung anarchistischen Charakters

Helga Paris hat ihrem Sohn das Interesse für Fotografie weitergeben. Schon als Junge zeigte Robert seiner Mutter immerzu Orte oder Gebäude, die sie für ihn fotografieren sollte. Als er fünfzehn ist, gibt sie ihm eine Kamera in die Hand, er sollte das Fotografieren selbst ausprobieren. Von da an zieht er mit der Kamera durch Ost-Berlin. Zwischen den „Koordinaten Diktatur und Subkultur, Eleganz und Widerstand, Tristesse und Humor“ sind seine Bilder zu suchen. Auf Friedhöfen und abgelegenen Bahnhöfen, an Häuserruinen und in Hinterhöfen hält Robert Paris das Vergängliche seiner Stadt fest, ohne zu ahnen, dass dies wirklich bald der Vergangenheit angehören würde. Laut Stasi-Akten gehörte Robert Paris zu „einer losen Gruppierung anarchistischen Charakters“. Die jungen Leute in Ost-Berlin nannten sich spaßeshalber „der Mob“; sie „ … saßen den ganzen Tag bloß rum, haben Quatsch gemacht, uns totgelacht und viel getrunken … Das war eigentlich ein superschönes Leben. Nur dass wir nicht in den Westen rüber durften. Das war ein Problem“, erzählt Paris. Auch Robert Paris fotografiert heute nur noch privat. „Vorher war das meine eigene Stadt, und für das, was mich interessiert hat, hat sich sonst niemand interessiert.“ In einer Firma für Museumstechnik verdient er sein Geld. Jegliches hat seine Zeit.

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