Stell Dir vor, es ist Pandemie, die Musikschule ist geschlossen und das benachbarte Gesundheitsamt sucht dringend Räume. Für zusätzliche Mitarbeiter inklusive Bundeswehr-Helfer, die per Corona-Hotline Auskünfte erteilen, besorgte Bürger informieren, Kontakten von Infizierten nachspüren und telefonisch Test-Ergebnisse mitteilen. Klar, dass man Mitte März in dieser Situation in Treptow-Köpenick pragmatisch handelte: Die leeren Unterrichtsräume der Josef-Schmidt-Musikschule in Adlershof wurden behelfsmäßig umgerüstet für die wichtige Arbeit des Gesundheitsamtes.
Doch seit der Lockdown Mitte Mai gelockert wurde und auch an der Musikschule an der Hans-Schmidt-Straße 8 zumindest teilweise wieder Unterricht stattfindet, änderte sich an der Situation kaum etwas: In etlichen Räumen wird weiter telefoniert, recherchiert und über Quarantänen und Tests entschieden, während nebenan Klavierübungen stattfinden oder Musiklehrer sich als Störenfriede fühlen, wenn sie auf leisen Sohlen Unterlagen aus Schränken holen, die in ihren ursprünglichen Unterrichtsräumen neben den Corona-Telefonierenden stehen.
Notlösungen fürs neue Schuljahr
Und weil die Pandemie anhält und niemand weiß, wie lange das Gesundheitsamt noch so intensiv arbeiten muss, wurde im Bezirksamt nach Notlösungen gesucht – nicht fürs Gesundheitsamt, sondern für die Musikschule. Die kann inzwischen 16 ihrer 45 Räume wieder nutzen, doch in 13 Unterrichts-Zimmern residiert weiterhin die Corona-Hotline.
„Tod durch Rauswurf“
Elternvertreter und Lehrer der Musikschule sind besorgt. Am Zaun, der das Gebäude umgibt, hingen jüngst Plakate mit Aufschriften wie „Tod durch Rauswurf“ oder „Den letzten beißt das Gesundheitsamt“. Unangemessen seien angesichts der wichtigen Arbeit des Gesundheitsamtes diese Banner, heißt es dazu im Bezirksamt. Denn fürs kommende Schuljahr habe man vorgesorgt, wie Kulturstadträtin Cornelia Flader (CDU) auf Anfrage schildert: „In der Musikschule am Standort Adlershof werden Räume im Erdgeschoss behelfsmäßig für die Musikschule hergerichtet.“
Dazu kämen weitere vier Räume im ehemaligen Linus-Pauling-Gymnasisum an der Keplerstraße in Oberschöneweide, das demnächst als Grundschule den Betrieb wieder aufnehmen soll. Die dortigen Räume, so Flader, würden für Unterricht in Kooperation mit diversen Schulen genutzt. Und wenn Chöre und Ensembles wieder aktiv werden dürften, könnten diese in der alten Sporthalle des Treptow-Kollegs in Baumschulenweg proben. Flader: „Der Musikschule werden also keine Räume fehlen, um geschlossene Unterrichtsverträge im kommenden Schuljahr zu erfüllen.“ Auch die 27 betroffenen Honorarkräfte, die sich naturgemäß um ihr Geld sorgten, bekämen ihr Honorar auf alle Fälle bezahlt.
„Den letzten beißt das Gesundheitsamt“
Die Stadträtin musste auf der letzten Bezirksverordnetenversammlung (BVV) vor der Sommerpause Mitte Juni mehrere empörte Anfragen von Elternvertretern und Musiklehrern beantworten. Auf die Frage, warum sie nicht viel eher über die Lage informiert habe, sagte sie, ihr sei die Emotionalität des Themas erst spät bewusst geworden.
Musikschule als emotionales Thema
Dabei ist das Thema Musikschule in Treptow-Köpenick seit vielen Jahren ein hochemotional belastetes Thema – hervorgerufen durch Aussagen und Handlungen der örtlichen Politik. So wurde Anfang 2012 im Bezirksamt und in der BVV beschlossen, dass der ursprüngliche Musikschulstandort an der Friedrichshagener Straße aufgegeben wird. Begründung: zu teuer, es müsse gespart werden.
Der damalige CDU-Kulturstadtrat wollte die Musikschulangebote fortan dezentralisieren, der Unterricht sollte an Schulen stattfinden. Doch es gab keine geeigneten Räume, die vier ausgewählten Schulen liefen Sturm gegen die Planungen. Der Politiker, der längst keiner mehr ist, hatte außerdem seine Rechnung ohne die Elternvertreter und Lehrer der Musikschule gemacht. Sie beklagten zunächst, dass sie vor vollendete Tatsachen gestellt worden seien und erzwangen dann mit rund 4.000 Unterschriften offizielle Gespräche mit allen Beteiligten am Runden Tisch. Fazit: aus dem „überall ein bisschen Musik machen“ wurde nichts, neuer Musikschulstandort für Köpenick wurde das ehemalige Schulgebäude an der Freiheit 15 in der Altstadt.
Dezentralisierung von Musikunterricht gilt seither auch offiziell im Bezirk als No-go, auch Stadträtin Flader schreibt: „Musikunterricht benötigt fachgerecht ausgebaute Räume und die Möglichkeit, miteinander fachübergreifend zu musizieren.“ Ohnehin, so Flader, litten auch die Schulen im Bezirk unter Raummangel, so dass dort Musikunterricht kaum möglich sei.
Seit Jahren gibt es im Bezirk also zwei zentrale Musikschulstandorte: für den Bereich Köpenick die Freiheit 15, für Treptow die ehemalige Kaserne an der Hans-Schmidt-Straße 6-8. Insgesamt erhalten an die 2.900 Kinder und Jugendliche im Bezirk Unterricht.
Am Standort Adlershof hatte sich allerdings lange vor Corona das Bezirksamt mit Büros breitgemacht, so dass der Musikschule dort nur noch die Hälfte der ursprünglichen Raumzahl gehört. Ohnehin soll die alte Kaserne mittelfristig komplett für dringend benötigte, neu eingestellte Bezirksamtsmitarbeiter umgebaut werden. Vorrangig das Jugendamt soll dort einziehen.
Die Musikschule soll dafür zwei komplett neue Standorte bekommen – einen hinter der Volkshochschule in Baumschulenweg und einen am ehemaligen Rathaus Johannisthal. Jeweils 4,5 Millionen Euro sind für die Neubauten in der bezirklichen Investitionsplanung vorgesehen. Die Bauarbeiten in Baumschulenweg sollen Anfang 2021 beginnen, wie Bürgermeister Oliver Igel (SPD) auf der letzten BVV vor der Sommerpause im Juni mitteilte. In 12 bis 15 Monaten könnte dann der Neubau stehen.
Neubauten und Skepsis
Doch die Skepsis bei Betroffenen bleibt. Günter Lorenz gehört zu den Skeptikern, die die Politik seit vielen Jahren beobachten. Er war einer der Aktiven, die entgegen den Vorstellungen der offiziellen Politik die Dezentralisierung des Unterrichts verhindert hat. Heute ist Lorenz Vorstand des Fördervereins der Musikschule, und er gehört noch immer zu den Elternvertretern, obwohl seine Kinder längst erwachsen sind. „Das Thema lässt mich einfach nicht los, vor allem wenn ich sehe, dass die hiesige Politik erneut über die Köpfe von Betroffenen hinweg entscheidet und handelt“, sagt er.
Lorenz fürchtet, dass die Angebote der Musikschule schrumpfen könnten. Denn der Neubau in Baumschulenweg werde viel kleiner sein als das jetzige Gebäude, und er solle obendrein gemeinsam mit der Volkshochschule genutzt werden. „Diese Bedingungen sind nicht optimal für eine gute musische Bildung, die so wichtig ist“, sagt Lorenz. Und ob der zweite Standort in Johannisthal, der für das Jahr 2026 vorgesehen ist, überhaupt noch gebaut werde, wenn es infolge weniger Plätze auch weniger Schüler gäbe, daran hätten sogar Mitarbeiter des Bezirksamtes im Gespräch mit ihm gezweifelt, behauptet er.
Auch die vergebliche Suche nach Interimsstandorten hat Lorenz geärgert. Das Bezirksamt hatte über Monate versucht, die Musikschule für die Zeit bis zur Fertigstellung des ersten Neubaus komplett anderswo unterzubringen. Doch aus den beiden groß angekündigten Ausweichorten, zunächst an der Schnellerstraße in Niederschöneweide und dann in Adlershof, wurde nichts. Man habe sich mit den Eigentümern nicht einigen können, heißt es dazu aus dem Bezirksamt.
Am meisten ärgert sich Günter Lorenz aber darüber, dass es in Adlershof künftig überhaupt keine Musikschule mehr geben wird. „Der Standort ist ideal für alle Schüler, die aus Richtung Altglienicke, Bohnsdorf, Grünau oder Rudow kommen“, sagt er. Es gebe bereits Signale von mehreren Eltern, denen der Weg nach Baumschulenweg für ihre Kinder zu weit sei.
Kreativität und Engagement, diese beiden Eigenschaften vermisst Lorenz in der Politik: Wieso, fragt er, habe niemand der Verantwortlichen mit dem Atelierhaus gegenüber der Musikschule Kontakt aufgenommen? Dort hätten sich bestimmt Unterrichts-Möglichkeiten ergeben. Warum, fragt er weiter, habe das Bezirksamt nicht bei den Verantwortlichen der WISTA Adlershof nach günstig zu mietenden Büroräumen für das Bezirksamt gefragt? „Solche Anmietungen sind laut Senat ausdrücklich erlaubt, und dann müsste die Musikschule nicht raus aus ihren Räumen.“
Heißer Herbst angekündigt
Egal was die Verantwortlichen in Treptow-Köpenick also tun oder wie sie entscheiden, Günter Lorenz wird sie weiter beobachten. „Wir Elternvertreter sind strikt dagegen, dass der Standort Adlershof aufgegeben wird und dass durch Entscheidungen ohne uns Beteiligte das Niveau der Musikschulausbildung in unserem Bezirk sinkt“, sagt er. Wenigstens ein Standort müsse in Adlershof sein, was für den Bereich Treptow zentral gelegen sei. Was aber, wenn all die Proteste kein gewünschtes Ergebnis bringen? Lorenz: „Dann werden wir den Politikern einen heißen Herbst bereiten.“