Jürgen Hilbrecht macht weiter

Wer ist der Mann hinter der Hauptmann-Rolle?
Als Berliner Volksschauspieler und in seiner Paraderolle als Hauptmann von Köpenick hat sich Jürgen Hilbrecht (79) jahrzehntelang um den Bezirk verdient gemacht – und will sich nun nach dem unrühmlichen Abschied von der Figur vielleicht nochmal neu beweisen.
Der Hauptmann-von-Köpenick-Darsteller Jürgen Hilbrecht
Foto: Matthias Vorbau

Am 21. Dezember 1942 wird Jürgen Hilbrecht in Johannisthal geboren und verlebt eine „typische Nachkriegskindheit“, wie er selbst sagt. Die Jugend trifft sich in Clubs, mit seinen Freunden legt er eine Art Gangverhalten an den Tag. Er versucht sich unter anderem im Boxen und beim Rudern, spielt viel Tischtennis und geht tanzen. Seine Berufsausbildung zum Elektroinstallateur macht ihm wenig Freude. Spannender geraten da seine Ausflüge in die Kunst, sogar Ballett steht hoch im Kurs.

Schicksalhaft für ihn soll aber eine besondere Begegnung in einem Jugendclub werden. Ein Schauspiel-Student hatte sich angekündigt. „Mir imponierte, wie locker er mit uns sprach“, erinnert sich Hilbrecht. Beim probeweisen Vorspielen kann er überzeugen – und hat Blut geleckt. Was auch daran liegen mag, dass er über seinen Vater, ein äußerst kulturinteressierter Kupferschmied, Kontakt mit der Schauspielkunst hatte. „Er besaß ein Theater-Anrecht. Und mir tat es sehr gut, früh mit Operetten und dergleichen konfrontiert zu werden.“

„Wenn die anderen Theater zu machen, machen wir auf!“

Das Treffen von den richtigen Leuten zum richtigen Zeitpunkt zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte von Jürgen Hilbrecht. „Ich hatte auf jeden Fall großes Glück“, betont er. So zum Beispiel, als im Ferienlager zufällig ein Regisseur anwesend war, der Hilbrecht endgültig dazu motivieren konnte sich auf Rollen zu bewerben und sich an der Staatlichen Schauspielschule Berlin (heute Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch) anzumelden. 

Ab 1961 studiert er und entdeckt dabei das Lesen für sich. In Vorbereitung auf diverse Rollen bekommt er viel neuere deutsche Literatur in die Hände, Hermann Hesse und Arthur Schopenhauer werden gute Bekannte. Er debattiert mit Kommilitonen Zukunftskonzepte und verinnerlicht das Menschenbild der Renaissance. Damit erweitert er nicht nur seinen Horizont, sondern nutzt das Wissen gezielt für seine Rollen. „Ein guter Schauspieler muss Texte empfinden und verinnerlichen können. Wer in ‚Don Carlos‘ spielt, muss beispielsweise die Inquisition mitdenken können“, erklärt Hilbrecht. 

Mit abgeschlossenem Studium führt ihn sein Weg ins Kindertheater nach Leipzig. Denn so sehr Hilbrecht Künstler ist, so sehr ist er auch Pragmatiker. Das Handwerk war gelernt, musste aber gepflegt werden. Also spielte er „wie verrückt“. Vor allem in der Weihnachtszeit um die 40 Auftritte, davon gerne drei Mal am selben Tag. Rollen als Faust und Mephisto in Goethes Faust oder Truffaldino aus Carlo Goldinis „Der Diener zweier Herren“ sollten folgen. Auf der Kehrseite ist er dafür nie verreist. Auch über seine Familie spricht er nur am Rande. Ein Kind aus erster Ehe, mit der zweiten Frau seit 47 Jahren verheiratet. Priorität und seine Leidenschaft sollten für ihn dennoch stets seine Rollen und das Theater genießen. 

Nach Stationen in Erfurt und Greifswald zieht es Hilbrecht zur Wendezeit zurück nach Berlin. Längst ist da der Gedanke eines Volkstheaters in ihm gereift. Theaterkunst bedeutet für ihn vor allem, dass das Publikum als auch die Darstellenden gemeinsam Angst und Schrecken, Freud und Leid erleben. „Im Sinne der Mimesis ist das Publikum für mich sogar der entscheidende Spieler.“ Inspirieren lässt er sich unter anderem von Dario Fo, ein italienischer Theaterautor, dessen komödiantischer Umgang mit Themen der Arbeiterklasse ihm sehr imponiert.

Gerade recht kommt da der Auftrag der damaligen Kulturamtsleiterin von Treptow-Köpenick zum Aufbau eines Ehrenamtes und zur Gründung eines Theaters. Vier Jahre lang setzt sich Hilbrecht für die Wiederbelebung des Stadttheaters Cöpenick ein – und das im Rahmen einer ABM-Stelle. Als erste Theaterinszenierung feiert 1993 „Der Hinterbänkler“ unter der Regie von Rainer Gohde Premiere. Es herrscht Aufbruchstimmung. Nicht jeder Plan wird erfolgreich umgesetzt, wie zum Beispiel ein Abendprogramm im Spreepark. Doch an Ideen mangelt es nicht. Oft zeigt sich Hilbrechts feines Gespür für Angebot und Nachfrage. „Wenn die anderen Theater zu sind, machen wir auf!“

Als die ABM-Stelle nicht verlängert wird, ist es wieder eine glückliche Fügung, die Jürgen Hilbrechts Karriere entscheidend beeinflussen soll. Im Ratskeller Köpenick lernt er Wolfgang Pinzl kennen - der Beginn einer sehr erfolgreichen Partnerschaft und Freundschaft. Und die „Heimat“ für den Hauptmann von Köpenick. Hier verkörpert er die Figur des Schusters Wilhelm Voigt unzählige Male in verschiedenen Programmen. Darüber hinaus ist er auf Dutzenden Messen präsent. Ein wichtiger Erfolgsfaktor, wie er schon damals weiß. „Unser Publikum bestand zu 80% aus Touristen und zu 20% aus Einheimischen.“

„Ich bin Schauspieler, kein Schausteller.“

Den vorläufigen Höhepunkt als Hauptmann erlebt Hilbrecht 2006, als die Fernsehautoren Felix Huby und Hans Münch (dessen Familie zufällig in dasselbe Haus einzieht, in dem auch Hilbrecht wohnt) ein auf ihn maßgeschneidertes Stück schreiben, in dem er 15 verschiedene Rollen verkörpert. Zur Premiere am 15. Oktober 2006 im Courtyard by Marriott Hotel sind 40 Leute angemeldet, tatsächlich erscheinen gut 200.

Als Identifikationsfigur ist er da längst etabliert, wenn auch mit nicht immer schönen Aufgaben. „Ich muss den Hauptmann spielen können. Einfach in Uniform in einer Straßenbahn oder einem Auto mitfahren, das macht keinen Spaß“, unterstreicht er. „Bei einem Umzug hat mich Peter Pabst [langjähriger Event-Manager, die Redaktion] angesprochen, weil ich so traurig geschaut habe. Ich bin nun mal Schauspieler, kein Schausteller.“

Gerade der Austausch mit dem Tourismusverein bedeutet ihm dennoch viel. Er wertschätzt, dass sich dort Menschen „für ihre Heimat eingesetzt haben“. Über 7.500 Auftritte sind es nach eigenen Angaben ab 1993. Vornehmlich in und um Köpenick, aber beispielsweise auch im Kurtheater Bad Schmiedeberg. Für seinen persönlichen Einsatz erhält er 2014 die Bürgermedaille. 

Umso folgenschwerer sind die Nachforschungen, die im Juli 2020 publik werden. „Späte Stasi-Enthüllungen: Hauptmann-Darsteller bespitzelte Theater-Kollegen“, titelt beispielsweise der Tagesspiegel. Betroffen sind unter anderem die Schauspieler Achim Wolff und Renate Krößner. Hilbrecht geht in die Defensive und entschuldigt sich, der Image-Schaden ist gewaltig. „Dass ich mir da nicht das Leben genommen habe, ist ein Wunder“, sagt er heute.

Den Vorwurf, er habe bei Kolleg:innen einen Karriereknick verursacht, kann er aber nicht so stehen lassen. „Meine Berichte waren harmlos oder haben ohnehin Bekanntes enthalten.“ Er habe auch Fluchthelfer gekannt, in deren Akten aber keine Hinweise von ihm zu finden sind. Dennoch beschäftigt ihn das Thema nach wie vor sehr. Auch, weil der Bezirk lange auf Distanz geht und eine unrühmliche Hängepartie beginnt, wie es denn weitergehen würde.

„Hilli kann man nicht ersetzen!“, so lautet ein Facebook-Kommentar einer Nutzerin unter einem Beitrag zur Suche nach einem Nachfolger. Diese Aufgabe dennoch angehen wird nun Heiko Stang, der bereits 2015 mit seiner Musicaladaption von „Der Hauptmann von Köpenick“ mit der Figur Erfahrung sammelte. Unter fünf Bewerbern konnte er sich nach Ansicht der Jury des Tourismusvereins, zu der unter anderem Bezirksbürgermeister Oliver Igel und Jürgen Hilbrecht selbst gehörten, am besten beweisen.

Und Hilbrecht? „Solange ich stehen und gehen kann, mache ich weiter“. Im Hauptmannsklub des Stadttheaters Köpenick mit Liedern von Otto Reutter oder neuen Projekten. Ideen dafür hat er genug. 


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