“Bergpunx-Aussenteam“ – Von der Besteigung des Huayna Potos:
Das Bergpunx–Aussenteam Tom und Herdi aus Bolivien im Mai 2008
Der Entschluss steht fest, wir wollen unseren ersten 6000er besteigen. Die erste Etappe bis ins Basecamp in 4300 m Höhe lassen wir uns von einem Taxi bringen, wo uns am Abend Donya Yola, unsere Basecamp-Mama, mit einem ausgiebigen Mahl aus Eiern, Lamafleisch, Salat und Kartoffeln bewirtet. Ihre Tochter, die einzige bolivianische Bergführerin, leistet uns dabei Gesellschaft.
Der nächste Tag beginnt mit Kaffee und Porridge. Zehn Uhr brechen wir zum Highcamp auf. Der Weg führt durch schroffes Gelände aus Geröll und Stein. Uns kommen Guides und deren Klienten entgegen. Letztere sehen müde aus und gehen wie ferngesteuert. Manche lächeln dabei glücklich und manche ähneln wandelnden Leichen. Im Camp auf 5130 m begrüßt uns der Hüttenwirt Freddy und wir lernen einen nach eigenen Angaben wegen der Höhenluft „fast toten“ Amerikaner kennen. Dazu gesellt sich ein Österreicher mit Guide und zwei Engländer. Den Nachmittag nutzen wir für einen Testlauf und proben den Notfall: Sturz in eine Gletscherspalte. Das Resultat ist vielversprechend. Ein vorbeischlendernder Guide staunt und lobt uns. Ja, jetzt fühlen wir uns gut vorbereitet!
Der Gipfeltag beginnt um 1:30 Uhr. Bei sternenklarem Himmel lässt der Mond den Huayna Potosi in seiner vollen Pracht erstrahlen. Zum Frühstück Porridge mit Banane und Apfel; dazu viel Tee. Um 4 Uhr, eine Stunde später als geplant, beginnt für uns die erste Besteigung eines 6000ers.
Die anderen Gruppen sind bereits gestartet. Nach dem Anstieg auf den ersten Sattel folgt die Querung eines Gletschers. Der zweite Anstieg führt uns auf den nächsten Sattel. Zwischen 5:30 und 6:00 Uhr passieren wir das letzte Lager auf dem Hochplateau; rechts und links große Gletscherspalten. In der Ferne leuchtet El Alto in der Dunkelheit. An einer großen Wächte (Eiswand) bekommen wir ein erstes Gefühl für die Höhe, in der wir uns bewegen. Um uns herum ein Abgrund und am Eisrand zeigen sich Löcher, durch die man in die Tiefe blicken kann. Die Wächte ist ca. 40 Grad steil bei einem Anstieg von ca. 70 m; und es soll noch steiler werden – Anders ausgedrückt: Für uns ist das „fuckingsausteil“!
Die Sonne geht auf. Auf 5500 m Höhe beginnt der Tag und hinter uns lauert 1000 m tiefe Dunkelheit. Leuchtzeichen am oberen Ende der Wächte. Uns kommen zwei Israelis und ein Guide entgegen. Sie haben die Besteigung abgebrochen, weil ihr schlecht ist. „1 hora al cumbre“ („1 Stunde zum Gipfel“) sagt der Guide und sichert die beiden an einem Eisnagel. Neben mir steht die völlig benommene Israelin. Ich frage: „todo bien?“ („Alles Gut?“) Sie reagiert nicht und geht mit starrem Blick weiter.
Die Wächte liegt nun endlich hinter uns. Wir queren riesige Spalten. Es wechseln leichte und steile Anstiege. Wir machen jetzt oft Pausen, sitzen auf unseren Knien und schnappen nach Luft. Die anderen Gruppen seilen sich bereits wieder ab. Schneeforscher und bekannte Gesichter kommen uns entgegen. Der Österreicher erzählt uns, dass er vor Glück den Tränen nahe gewesen sei, als er sich im letzten Anstieg befand und die Sonne aufging. Zuletzt kommen uns der Amerikaner und sein Guide entgegen. Der Amerikaner benimmt sich merkwürdig. Wir schauen uns mit fragendem Blick an: dem? dem! Noch eine wandelnde Leiche.
Nun sind wir allein hier oben. Ich fühle meine Erschöpfung: dreimal Luft holen für einen Schritt. Wir erreichen den letzten Hang. Er ist schockierend lang und steil: 250 m bei bis zu 55 Grad – „Fuck!“ Der Blick in die Tiefe ist furchteinflößend. Ich nehme alle Sinne zusammen und versuche mich auf den richtigen Halt zu konzentrieren. Hier muss jeder Schritt sitzen. Tom meint, er könne nicht mehr. Ich rufe ihm zu: „Lass uns zu dieser Kante da hochgehen und dann gucken wir!“ Also noch 20 m. Kurz vor elf Uhr erreicht Tom die Kante, doch dahinter ist nix, rein gar nix! Keine weitere Steigung. Nur diese Kante und ein weiter Blick über Wolken. Das muss der Gipfel sein! Wir können es kaum glauben und fallen uns in die Arme. Riesige Freude und Erleichterung in 6088 m Höhe. Wir genießen jeden Atemzug. Die Sonne über und die Wolken unter uns, und dazu ein leichter Wind. Wir sehen die Erdkrümmung und bekräftigen Galileo: Ja, die Erde ist rund!
Hereinbrechende Dunkelheit über dem Orbit erinnert uns daran, wie klein wir doch sind. Uns kommt der steile Weg in den Sinn, den wir jetzt wieder absteigen müssen. Das fordert unsere Reserven und ich fange an, mich zu beklagen. Mittags haben wir es geschafft und lassen den Gipfelhang hinter uns. Mit abnehmender Höhe geht es uns besser. Wir passieren das Campo Argentino in 5450 m Höhe; doch erst als wir am letzten Hang auf das Highcamp herabschauen, realisieren wir das Erlebte.
Im Highcamp empfangen uns die beiden Engländer Joe und Tom. Das Highcamp ist inzwischen so voll, dass wir uns nach einer 2stündigen Schlafpause entscheiden, noch heute ins Basecamp abzusteigen. Mit letzter Kraft erreichen wir am Abend das Basecamp und haben unsere Mama Donya wieder, die sich freut, uns wiederzusehen und uns mit Leckereien verwöhnt. Dankbar für alles, schauen wir ein letztes Mal auf den Huayna, der im Mondschein leuchtet – Bergfrieden!
Aus dem Tagebuch von Thomas Dietzsch und Sebastian Herde.